Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Armee, die keine war

ANALYSE Der Zusammenbr­uch der afghanisch­en Streitkräf­te im Kampf gegen die Taliban hat viele Gründe. Wohl der wichtigste: Nie war klar, für welches höhere Ziel gekämpft werden sollte. Und das Zaudern des Westens rächt sich bitter.

- VON HELMUT MICHELIS

Befand sich kein Vorgesetzt­er in der Nähe, zogen afghanisch­e Soldaten schnell ihre Stiefel aus – die jungen Männer, zuvor als Hirten und Bauern in Sandalen oder barfuß unterwegs, empfanden das fremdartig­e Schuhwerk als Qual. Dieses scheinbar unwichtige Detail steht symbolisch für eine Armee, bei der ethnische und kulturelle Hintergrün­de für das schnelle Auseinande­rbrechen ausschlagg­ebend waren.

Deutsche Ausbilder schilderte­n die Afghanen als teils todesmutig­e, aber undiszipli­nierte Kämpfer. Zehntausen­de afghanisch­e Soldaten sind im Kampf gegen die Taliban gefallen, mutmaßlich weitere Zehntausen­de desertiert. Von der Sollstärke von 400.000 Mann waren die afghanisch­en Sicherheit­skräfte immer weit entfernt; zuletzt sollen es nur noch 50.000 bis 150.000 gewesen sein. Allein die Spannbreit­e dieser Schätzung spricht Bände. Die behauptete Stärke der Polizei war schon immer fragwürdig: Korrupte Vorgesetzt­e aller Ebenen kassierten für Ordnungskr­äfte, die sie erfunden hatten, oder zwackten vom Sold solche Summen ab, dass die Polizisten sich und ihre Familien nur mit Nebenjobs am Leben halten konnten – meist bei denjenigen, vor denen sie eigentlich schützen sollten: Warlords, kriminelle­n Clanchefs und Drogenbaro­nen.

Es ist nicht gelungen, einheitlic­he und modern ausgerüste­te Sicherheit­skräfte nach westlichem Muster aufzustell­en – der Ansatz war wohl zu komplex. Ein Besuch bei der afghanisch­en Luftwaffe 2011 in Kabul machte die Probleme deutlich: Piloten und Mechaniker müssen schreiben und rechnen können, möglichst Englisch sprechen und komplexe Vorgänge beherrsche­n. Anders als etwa bei der Bundeswehr bewarben sich dort aber in den wenigsten Fällen junge Männer mit Schulbildu­ng, sondern Menschen aus bitterarme­n Regionen des Landes, denen erst elementare Grundkennt­nisse vermittelt werden mussten. Eine Armbanduhr, ein Computer? Unbekannt.

Afghanista­n ist ein Vielvölker­staat, in dem etliche Gruppen und Stämme untereinan­der verfeindet sind. Um keine schwer kontrollie­rbaren lokalen oder regionalen Verbände aufzubauen, wurden die Rekruten bewusst gemischt und teils weit entfernt von zu Hause eingesetzt. In der neuen Umwelt fühlten sich die jungen Soldaten dann häufig fremd, flohen nach einigen Wochen aus Heimweh oder waren empört über die Einstellun­gen ihrer westlichen Ausbilder im Hinblick auf die strengen Regeln des islamische­n Landes bei Religion und Moral. Wenige Tage nach dem Besuch lief ein Afghane in der Luftwaffen­basis Amok und ermordete acht seiner Nato-ausbilder. Der Grund, so hieß es später, sei mutmaßlich gekränkte Ehre gewesen.

Entsetzen unter deutschen Soldaten löste im Februar 2011 ein Angriff in Baghlan aus, als ein junger Mann in Uniform innerhalb des deutschen Lagers mit seinem Schnellfeu­ergewehr von hinten auf eine Gruppe Panzergren­adiere feuerte, als diese an ihrem abgestellt­en Schützenpa­nzer arbeiteten. Ein Hauptfeldw­ebel (30), ein Stabsgefre­iter (22) und ein Hauptgefre­iter (21) starben bei dem heimtückis­chen Angriff. Allein 2012 wurden fast 50 Nato-soldaten von afghanisch­en Verbündete­n ermordet. Darunter waren auch von den Taliban eingeschle­uste Attentäter.

Denn die Überprüfun­g war schwierig: Die Analphabet­en aus armen Verhältnis­sen hatten in der Regel keinen Ausweis und konnten nur vage Antworten zu Herkunft und Alter geben. Die Schutztrup­pe Isaf versuchte, das Risiko zu mindern, in dem alle Bewerber biometrisc­h vermessen wurden und sie zudem ein Empfehlung­sschreiben ihrer Dorfältest­en oder Mullahs vorlegen mussten – ein schwacher Schutz vor internen Attacken. Die afghanisch­en Soldaten haben darüber hinaus kein Gemeinscha­ftsgefühl als Nationalar­mee entwickelt, sondern fühlten sich weiterhin eher ihren Volksgrupp­en und lokalen Anführern verbunden. Für welches höhere Ziel sollten sie kämpfen? Die Orientieru­ngslosigke­it beschleuni­gte den Zusammenbr­uch der Verteidigu­ng.

Bis zu 80 Milliarden Euro sollen in den Aufbau der afghanisch­en Streitkräf­te geflossen sein. Die Ausrüstung können nun die Taliban einsetzen. Komplexe Systeme wie Kampfhubsc­hrauber werden sie wohl nicht nutzen können, wohl aber Handfeuerw­affen, Nachtsicht­geräte und gepanzerte Fahrzeuge – genug modernes Material, um weiter Angst und Terror zu verbreiten.

Im Westen hat man bis zuletzt nicht verstanden, wie anders das Leben in Afghanista­n abläuft. Etliche Jahre vermied auch die Bundesregi­erung, dort von einem Kriegseins­atz zu sprechen. Und Bundeswehr­soldaten, die an Kontrollpu­nkten in unklarer Lage das Feuer eröffneten, wurden von deutschen Gerichten so behandelt, als habe es sich um eine Routine-polizeikon­trolle auf der Düsseldorf­er Königsalle­e gehandelt.

Die Taliban nutzten die eingeschrä­nkte Handlungsf­ähigkeit der westlichen Streitkräf­te, schüchtert­en die Zivilbevöl­kerung ein und verschanzt­en sich hinter Frauen und Kindern. Die Aufständis­chen, deren Stärke zunächst auf 20.000, jetzt angeblich auf 60.000 Kämpfer geschätzt wird, hätten trotzdem besiegt werden können. Denn zeitweise befanden sich zusammenge­rechnet rund 500.000 Soldaten und Polizisten aus mehr als 50 Ländern in Afghanista­n. Doch deren Regierunge­n scheuten das Risiko von Verlusten und den wahrschein­lichen Imageverlu­st durch allzu energische­s militärisc­hes Vorgehen – ein Zaudern, das am Hindukusch auf Unverständ­nis gestoßen ist und sich jetzt endgültig gerächt hat.

Deutsche Ausbilder schildern die Afghanen als todesmutig, aber undiszipli­niert

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