Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Armee, die keine war
ANALYSE Der Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Taliban hat viele Gründe. Wohl der wichtigste: Nie war klar, für welches höhere Ziel gekämpft werden sollte. Und das Zaudern des Westens rächt sich bitter.
Befand sich kein Vorgesetzter in der Nähe, zogen afghanische Soldaten schnell ihre Stiefel aus – die jungen Männer, zuvor als Hirten und Bauern in Sandalen oder barfuß unterwegs, empfanden das fremdartige Schuhwerk als Qual. Dieses scheinbar unwichtige Detail steht symbolisch für eine Armee, bei der ethnische und kulturelle Hintergründe für das schnelle Auseinanderbrechen ausschlaggebend waren.
Deutsche Ausbilder schilderten die Afghanen als teils todesmutige, aber undisziplinierte Kämpfer. Zehntausende afghanische Soldaten sind im Kampf gegen die Taliban gefallen, mutmaßlich weitere Zehntausende desertiert. Von der Sollstärke von 400.000 Mann waren die afghanischen Sicherheitskräfte immer weit entfernt; zuletzt sollen es nur noch 50.000 bis 150.000 gewesen sein. Allein die Spannbreite dieser Schätzung spricht Bände. Die behauptete Stärke der Polizei war schon immer fragwürdig: Korrupte Vorgesetzte aller Ebenen kassierten für Ordnungskräfte, die sie erfunden hatten, oder zwackten vom Sold solche Summen ab, dass die Polizisten sich und ihre Familien nur mit Nebenjobs am Leben halten konnten – meist bei denjenigen, vor denen sie eigentlich schützen sollten: Warlords, kriminellen Clanchefs und Drogenbaronen.
Es ist nicht gelungen, einheitliche und modern ausgerüstete Sicherheitskräfte nach westlichem Muster aufzustellen – der Ansatz war wohl zu komplex. Ein Besuch bei der afghanischen Luftwaffe 2011 in Kabul machte die Probleme deutlich: Piloten und Mechaniker müssen schreiben und rechnen können, möglichst Englisch sprechen und komplexe Vorgänge beherrschen. Anders als etwa bei der Bundeswehr bewarben sich dort aber in den wenigsten Fällen junge Männer mit Schulbildung, sondern Menschen aus bitterarmen Regionen des Landes, denen erst elementare Grundkenntnisse vermittelt werden mussten. Eine Armbanduhr, ein Computer? Unbekannt.
Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, in dem etliche Gruppen und Stämme untereinander verfeindet sind. Um keine schwer kontrollierbaren lokalen oder regionalen Verbände aufzubauen, wurden die Rekruten bewusst gemischt und teils weit entfernt von zu Hause eingesetzt. In der neuen Umwelt fühlten sich die jungen Soldaten dann häufig fremd, flohen nach einigen Wochen aus Heimweh oder waren empört über die Einstellungen ihrer westlichen Ausbilder im Hinblick auf die strengen Regeln des islamischen Landes bei Religion und Moral. Wenige Tage nach dem Besuch lief ein Afghane in der Luftwaffenbasis Amok und ermordete acht seiner Nato-ausbilder. Der Grund, so hieß es später, sei mutmaßlich gekränkte Ehre gewesen.
Entsetzen unter deutschen Soldaten löste im Februar 2011 ein Angriff in Baghlan aus, als ein junger Mann in Uniform innerhalb des deutschen Lagers mit seinem Schnellfeuergewehr von hinten auf eine Gruppe Panzergrenadiere feuerte, als diese an ihrem abgestellten Schützenpanzer arbeiteten. Ein Hauptfeldwebel (30), ein Stabsgefreiter (22) und ein Hauptgefreiter (21) starben bei dem heimtückischen Angriff. Allein 2012 wurden fast 50 Nato-soldaten von afghanischen Verbündeten ermordet. Darunter waren auch von den Taliban eingeschleuste Attentäter.
Denn die Überprüfung war schwierig: Die Analphabeten aus armen Verhältnissen hatten in der Regel keinen Ausweis und konnten nur vage Antworten zu Herkunft und Alter geben. Die Schutztruppe Isaf versuchte, das Risiko zu mindern, in dem alle Bewerber biometrisch vermessen wurden und sie zudem ein Empfehlungsschreiben ihrer Dorfältesten oder Mullahs vorlegen mussten – ein schwacher Schutz vor internen Attacken. Die afghanischen Soldaten haben darüber hinaus kein Gemeinschaftsgefühl als Nationalarmee entwickelt, sondern fühlten sich weiterhin eher ihren Volksgruppen und lokalen Anführern verbunden. Für welches höhere Ziel sollten sie kämpfen? Die Orientierungslosigkeit beschleunigte den Zusammenbruch der Verteidigung.
Bis zu 80 Milliarden Euro sollen in den Aufbau der afghanischen Streitkräfte geflossen sein. Die Ausrüstung können nun die Taliban einsetzen. Komplexe Systeme wie Kampfhubschrauber werden sie wohl nicht nutzen können, wohl aber Handfeuerwaffen, Nachtsichtgeräte und gepanzerte Fahrzeuge – genug modernes Material, um weiter Angst und Terror zu verbreiten.
Im Westen hat man bis zuletzt nicht verstanden, wie anders das Leben in Afghanistan abläuft. Etliche Jahre vermied auch die Bundesregierung, dort von einem Kriegseinsatz zu sprechen. Und Bundeswehrsoldaten, die an Kontrollpunkten in unklarer Lage das Feuer eröffneten, wurden von deutschen Gerichten so behandelt, als habe es sich um eine Routine-polizeikontrolle auf der Düsseldorfer Königsallee gehandelt.
Die Taliban nutzten die eingeschränkte Handlungsfähigkeit der westlichen Streitkräfte, schüchterten die Zivilbevölkerung ein und verschanzten sich hinter Frauen und Kindern. Die Aufständischen, deren Stärke zunächst auf 20.000, jetzt angeblich auf 60.000 Kämpfer geschätzt wird, hätten trotzdem besiegt werden können. Denn zeitweise befanden sich zusammengerechnet rund 500.000 Soldaten und Polizisten aus mehr als 50 Ländern in Afghanistan. Doch deren Regierungen scheuten das Risiko von Verlusten und den wahrscheinlichen Imageverlust durch allzu energisches militärisches Vorgehen – ein Zaudern, das am Hindukusch auf Unverständnis gestoßen ist und sich jetzt endgültig gerächt hat.
Deutsche Ausbilder schildern die Afghanen als todesmutig, aber undiszipliniert