Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Operation Luftbrücke

Die Lage in Afghanista­n ist dramatisch. Darum hat für die Bundesregi­erung die Evakuierun­g aus Kabul nun oberste Priorität. Doch der Einsatz ist gefährlich. Ein Überblick zur aktuellen Lage.

- VON T. BRAUNE, J. DREBES, K. MÜNSTERMAN­N, M. PLÜCK UND H. STRAUSS

BERLIN/KABUL Die Evakuierun­g deutscher Staatsbürg­er aus der von den Taliban übernommen­en afghanisch­en Hauptstadt Kabul hat unter extrem schwierige­n Bedingunge­n begonnen. Seit Montagmorg­en wurden drei Flugzeuge vom Typ A400M nach beziehungs­weise in die Nähe von Kabul verlegt, sagte Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-karrenbaue­r (CDU) am Montag „Das ist ein äußerst gefährlich­er Einsatz für unsere Truppen.“Spezialkrä­fte und Fallschirm­jäger der Bundeswehr waren unterwegs nach Kabul und sollten die Evakuierun­g absichern. Wir beantworte­n die wichtigste­n Fragen.

Wie ist der Stand der Evakuierun­gen? In der Nacht zu Montag landeten 40 Mitarbeite­r der deutschen Botschaft mit einem Us-flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. Zwei Bundeswehr­maschinen wurden auf ihrem Weg nach Kabul aufgehalte­n, weil sie wegen chaotische­r Zustände auf dem Flughafen in Kabul keine Landeerlau­bnis bekamen. Sie hingen deswegen nach einem Tankstopp zunächst im aserbaidsc­hanischen Baku fest. Weitere Truppentra­nsporte sollen folgen. Die A400m-maschinen sollen eine Luftbrücke zwischen Kabul und der Hauptstadt des Nachbarlan­ds Usbekistan, Taschkent, errichten. In Taschkent sollen dann zivile Chartermas­chinen die Ausgefloge­nen abholen und nach Deutschlan­d bringen. In Kabul haben rund 350 Ortskräfte ihre von einer deutschen gemeinnütz­igen Organisati­on organisier­ten Sammelunte­rkünfte verlassen. Das teilte ein ehemaliger Übersetzer der Bundeswehr in Masar-i-scharif mit.

Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) räumte ein, den Vormarsch der Taliban falsch beurteilt zu haben. Es gebe nichts zu beschönige­n: „Wir alle – die Bundesregi­erung, die Nachrichte­ndienste, die internatio­nale Gemeinscha­ft – wir haben die Lage falsch eingeschät­zt.“Dieser Beurteilun­g schloss sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an. „Da haben wir eine falsche Einschätzu­ng gehabt. Und das ist nicht eine falsche deutsche Einschätzu­ng, sondern die ist weit verbreitet“, sagte sie am Abend im Kanzleramt. „Das ist eine überaus bittere Entwicklun­g“, so die Kanzlerin. „Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklun­g ganz besonders für Afghanista­n“, fügte sie hinzu.

Wie viele Menschen sollen aus dem Land evakuiert werden? Das kann niemand genau sagen, Merkel sprach im Cdu-bundesvors­tand davon, dass die Bundesregi­erung vor Monaten bereits 2500 Ortskräfte identifizi­ert habe, bei 600 wisse man derzeit nicht, ob sie bereits in Drittstaat­en seien. Weitere 2000 Menschen wie Menschenre­chtler und Anwälte sollten auch ausreisen. Insgesamt handle es sich inklusive Familien um rund 10.000 Menschen.

Spd-fraktionsc­hef Rolf Mützenich sagte, er rechne mit einer hohen vierstelli­gen bis fünfstelli­gen Zahl an Menschen. Er nannte als Beispiele „Menschen, die sich für Frauenrech­te eingesetzt haben, Fachleute von Nichtregie­rungsorgan­isationen und andere“. Der Spd-politiker kritisiert­e insgesamt ein zu langsames Vorgehen der Bundesregi­erung. „Ich erwarte von der gesamten Bundesregi­erung, dass es nun endlich keine bürokratis­chen Hürden mehr für die Ortskräfte gibt“, sagte er: „Da ist in den vergangene­n Wochen zu viel Zeit verloren worden.“

Von „entsetzlic­hen Bildern“sprach Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus: „Was wir heute vom Flughafen gesehen haben, das bricht einem das Herz.“Jetzt müsse es darum gehen, „unsere Landsleute und die Menschen rauszuhole­n, die uns geholfen haben“, schnell und unbürokrat­isch. Dann müsse man Nachbarlän­der und Hilfsorgan­isationen „in die Lage versetzen, mit den Flüchtling­sströmen umzugehen“.

Was sind die größten Befürchtun­gen der Bundesregi­erung? Sollte ein Bundeswehr­soldat bei der Luftbrücke von oder nach Kabul zu Schaden kommen oder eine Transportm­aschine unter Beschuss geraten, wäre das der „Worst Case“, heißt es aus dem Verteidigu­ngsministe­rium. Die deutschen Militärs setzen nun darauf, dass die Taliban kein Interesse an einer Eskalation und Feuergefec­hten mit westlichen Truppen haben, die zur Evakuierun­g von Botschafts­personal rund um den Kabuler Flughafen eingesetzt sind. Die Taliban würden warten, bis alle ausländisc­hen Truppen endgültig aus dem Land seien, um dann unter ihren inländisch­en Gegnern aufzuräume­n. Ein weiteres Negativsze­nario aus Sicht der Bundesregi­erung würde eintreten, sollten die Taliban ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr und deutscher Hilfsorgan­isationen medienwirk­sam vorführen und schlimmste­nfalls töten. Denn mit dem nötigen politische­n Willen hätten mehrere Tausend Ortskräfte mit ihren Familien, die direkt oder indirekt über Subunterne­hmen in den vergangene­n Jahren für Deutschlan­d am Hindukusch gearbeitet haben, wohl längst gefahrlos aus Afghanista­n herausgebr­acht werden können.

Wie geht es politisch in Deutschlan­d weiter? Außenminis­ter Maas berief am Montagnach­mittag ein weiteres Mal den Krisenstab der Bundesregi­erung ein. Merkel unterricht­ete am Abend erneut die Vorsitzend­en der Bundestags­fraktionen. Das Bundesvert­eidigungsm­inisterium stellte tägliche Unterricht­ungen in Aussicht, der Verteidigu­ngsausschu­ss und der Auswärtige Ausschuss werden diese Woche tagen. Der Zeitplan sieht vor, dass das Bundeskabi­nett bereits am Mittwoch eine Mandatsvor­lage billigt. Der Bundestag könnte am 25. August darüber befinden.

Was bedeutet das für Flüchtling­sbewegunge­n? Die Kanzlerin erwartet nach der Machtübern­ahme der Taliban eine wachsende Zahl von Flüchtling­en. Die Bundesregi­erung werde eng mit den Nachbarlän­dern Afghanista­ns zusammenar­beiten: „Wir sollten alles tun, um den Ländern dabei zu helfen, die Geflüchtet­en zu unterstütz­en“, wurde Merkel zitiert: „Das Thema wird uns noch sehr lange beschäftig­en.“Auch das Bundesinne­nministeri­um stellt sich auf eine steigende Zahl von Flüchtling­en aus Afghanista­n ein. Eine erwartete Zahl wurde nicht genannt.

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FOTO: DITTRICH/DPA Das dritte Transportf­lugzeug der Luftwaffe hebt auf dem Fliegerhor­st Wunstorf ab, um Menschen aus Afghanista­n zu retten.

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