Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Rette sich, wer kann
Chaos auf dem Rollfeld und Szenen der Verzweiflung: Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist die Angst vor ihrer Herrschaft bei vielen groß.
KABUL (dpa) Das blitzartige Tempo, mit dem die Taliban zwei Wochen vor dem Abschluss des Abzugs der Us-truppen aus Afghanistan die Kontrolle über das Land übernommen haben, hat die Regierung von Us-präsident Joe Biden und die internationale Gemeinschaft kalt erwischt. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben westliche Staaten begonnen, in großer Eile ihre Staatsbürger und gefährdete afghanische Ortskräfte auszufliegen.
Am Flughafen der Hauptstadt Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Tausende Afghanen versuchten verzweifelt, an Bord solcher Flugzeuge zu kommen. Entsetzen lösten insbesondere Aufnahmen aus, die zeigen sollen, wie Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sie sich im Fahrwerk der Maschine versteckt hatten oder sich am Flieger festhielten. Auf Videos, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden, soll zu sehen sein, wie Dutzende Menschen neben einer rollenden Us-militärmaschine laufen. Einige klettern auf das Flugzeug und klammern sich fest.
Zur Sicherung des Flughafens von Kabul entsendet das Us-militär ein weiteres Bataillon mit etwa 1000 Soldaten. Das kündigte das Pentagon am Montag an. Inmitten der chaotischen Evakuierungsaktion am Flughafen töteten Us-truppen nach Angaben von Pentagon-sprecher John Kirby zwei Bewaffnete. Aus Sicherheitsgründen fanden vorerst keine Starts oder Landungen statt. Es sei unklar, wann diese wieder aufgenommen würden, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.
Us-präsident Joe Biden sah sich nach dem schnellen Vormarsch der Taliban im Kreuzfeuer führender Republikaner. Der frühere US-PRÄsident Donald Trump warf seinem Nachfolger vor, sich den Taliban „ergeben“zu haben. Biden habe mit seiner Afghanistan-politik „das
Vertrauen in die Macht und den Einfluss Amerikas zerstört“.
Die Lage in Kabul selbst war am Montag angespannt, aber zunächst ruhig. Die Taliban besetzten überall in der Hauptstadt Polizeistationen und andere Behördengebäude, wie Bewohner der Deutschen Presse-agentur berichteten. Bewaffnete Kämpfer fuhren in Militär- und Polizeiautos sowie anderen Regierungsfahrzeugen durch die Stadt. Gleichzeitig errichteten sie weitere, eigene Kontrollpunkte. Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte eingenommen – viele kampflos. Am Sonntag rückten sie auch in Kabul ein.
Der Vormarsch hatte viele Beobachter, Experten und auch die Us-regierung überrascht. Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300.000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60.000 schlechter ausgerüsteten Taliban-kämpfern gegenüber. Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie sich während ihrer Herrschaft in den 90er-jahren mit öffentlichen Exekutionen verdient haben.
Viele Afghanen zeigten in sozialen Medien offen ihre Wut über den geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani. Er habe Afghanistan zerstört, durch ihn seien Tausende Kinder nun vaterlos, er habe dem Land jegliche Sicherheit genommen und es dem Feind übergeben, schrieb die Sängerin Sedika Madadgar auf Facebook. Nach Angaben der russischen Botschaft ist Ghani in Kabul mit vier Wagen und einem Hubschrauber voller Geld aus dem Land geflohen. Ghani habe demnach noch Geld zurücklassen müssen, da der Platz nicht gereicht habe. „Vier Autos waren voll mit Geld. Sie versuchten, einen weiteren Teil des Geldes in einen Hubschrauber zu stopfen, aber es passte nicht alles hinein. Und ein Teil des Geldes blieb auf der Rollbahn liegen“, wurde Botschaftssprecher Nikita Ischtschenko zitiert.
Un-generalsekretär António Guterres mahnte die militant-islamistischen Taliban zu „äußerster Zurückhaltung“, um so Leben zu schützen. Humanitäre Hilfe müsse weiter möglich sein, und allen Menschen, die das Land verlassen wollten, müsse dies möglich sein, forderte er Montag bei einer Sondersitzung des Un-sicherheitsrats. Die Weltgemeinschaft rief der Un-chef auf, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen und Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen.
Nach der faktischen Machtübernahme durch die Taliban sollen Gespräche zwischen Politikern und Vertretern der Islamisten laufen. Das teilte ein Sprecher des ehemaligen Präsidenten Hamid Karsai mit. In einem ersten Schritt habe man betont, dass das Leben und das Vermögen der Bevölkerung sowie die öffentliche Infrastruktur geschützt werden müssten, sagte der Sprecher weiter. Die Aufständischen wollen ein „Islamisches Emirat Afghanistan“errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der Us-truppen im Jahr 2001. Damals setzten sie mit drakonischen Strafen ihre Vorstellungen eines islamischen Staats durch: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung.
Mehrere Frauenrechtsorganisationen wandten sich an die Bundesregierung, Frauenrechtlerinnen und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen in Afghanistan bei der Ausreise zu unterstützen. Die stellvertretende Terre-des-femmes-vorsitzende Inge Bell sagte, besonders Akteurinnen, die sich für die Rechte von Frauen eingesetzt hätten, schwebten nun in Todesgefahr: „Schon jetzt rächen sich die Taliban an Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen oder eingesetzt haben.“