Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Ich dachte, diese Mission endet nie“
Der frühere Leiter der Polizeiinspektion Mitte über seine Einsätze beim Aufbau der Polizei in Afghanistan und die aktuelle Lage.
Sie sind 2004 nach Afghanistan gegangen, um dort die – nicht mehr wirklich existente – Polizei neu aufzubauen. Wie geht es Ihnen heute? HANS-JOACHIM KENSBOCK-RIESO Seit dem Wochenende gehen mir viele Geschichten durch den Kopf, die ich dort erlebt habe, auch bei meinem zweiten Aufenthalt 2008/2009. Ich denke an die Menschen, die ich kennengelernt, mit denen ich gearbeitet habe. Und an so manche Einschätzung, die damals schon falsch war.
Welche meinen Sie damit? KENSBOCK-RIESO Gerade heute ist viel die Rede davon, warum sich die afghanische Bevölkerung den Taliban nicht entgegengestellt hat. Dabei sind die Taliban nie weg gewesen. Man hat ihren Einfluss und ihre Verflechtung in die Bevölkerung unterschätzt. Und beim Aufbau neuer Strukturen sind die Menschen in Afghanistan nicht wirklich mitgenommen worden. EUPOL und Militär waren mehr mit sich beschäftigt als mit den Menschen dort.
Haben Sie ein konkretes Beispiel? KENSBOCK-RIESO Unsere Mission etwa, sie bestand im Aufbau einer bürgernahen Polizei. Dazu gehören in der westlichen Welt selbstverständlich auch Frauen. Und entsprechend wurde hier gejubelt, als wir die ersten afghanischen Polizistinnen ausgebildet haben. Im Land selbst, bei den Menschen, die von jahrzehntelanger radikal-islamischer Herrschaft und Bürgerkriegen geprägt waren, kam das längst nicht so gut an. Aber das zählte nicht.
Was glauben Sie, wird nun mit diesen Polizistinnen geschehen? KENSBOCK-RIESO Wenn sie klug sind, haben sie das Land hoffentlich schon verlasen
Und die übrige, von EUPOL ausgebildete Polizei? Wird sie auch zur Zielscheibe der Taliban? KENSBOCK-RIESO Ich denke, die Rache der Taliban wird sich hauptsächlich gegen die zivilen Helfer richten, die Dolmetscher, die Fahrer. Die afghanische Polizei wird in ihren Augen nicht als Kollaborateur gelten. Man muss aber auch sehen, dass es vor allem afghanische Polizisten waren, die zuletzt bei Anschlägen ums Leben gekommen sind.
Wenn Sie sagen, die Menschen sind nicht mitgenommen worden, das heißt ja, das keine Überzeugungen, keine Loyalität wachsen konnte. War das von Anfang so? KENSBOCK-RIESO Als ich 2004 zum ersten Mal dort war, herrschte Aufbruchstimmung. Da schien alles möglich. Erst bei meiner Rückkehr vier Jahre später setzte bei mir die Ernüchterung ein. Die Times hat damals von den „Eu-boys in the Kabul-bubble“geschrieben, und das trifft sehr genau, wie ich das gesehen habe: Nach der Gründung der EUPOL 2007 lief alles umständlicher und über Brüssel. 2004 war ich in Uniform auf dem Basar, meine Frau hat mich damals in Kabul besucht. 2008 war die Mission dann schon aus der Innenstadt an den Stadtrand verlegt worden und hatte so hohe Sicherheitsvorkehrungen, dass kaum noch Kontakt zur einheimischen Bevölkerung möglich war. Wir waren in unserer eigenen Blase, eben der EUPol-bubble.
Haben Sie damals befürchtet, dass geschehen könnte, was nun geschehen ist?
KENSBOCK-RIESO Niemals. Wenn ich 2004 gedacht habe, wir leisten dort Hilfe zur Selbsthilfe, bis Afghanistan ein eigenständiger, starker Staat geworden ist, habe ich beim zweiten Einsatz gedacht, dass es für diese Mission kein Ende geben würde. Und darauf schienen alle eingestellt, es wurden Einrichtungen gebaut usw. Allen schien klar, dass wir dort bleiben müssen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass zugelassen würde, was jetzt passiert ist. Bis die Amerikaner ihren Rückzug verkündeten.
Können Sie diese Entscheidung nachvollziehen?
KENSBOCK-RIESO Sie zeigt, was eigentlich von Anfang an klar hätte sein müssen: Dass es den USA nicht um Hilfe für die Zivilgesellschaft, sondern nur um den militärischen Aspekt ging. Aber ohne die Präsenz des Us-militärs gab es keine Sicherheit mehr für alle anderen.
Würden Sie sagen, diese zwei Jahre, die Sie in Kabul waren, waren vergeudete Jahre?
KENSBOCK-RIESO Für mich persönlich nicht. Die Einsätze haben mich schon weitergebracht, man lernt tolle Menschen kennen, erweitert den Horizont und bildet seine Persönlichkeit weiter. Nicht zu vergessen die Einblicke, die ich in dieser Zeit in politische Entscheidungsprozesse bekam. Aber für die Sache, da waren diese Einsätze umsonst. Was wir 20 Jahre lang geleistet haben, ist innerhalb weniger Tage nicht nur verlorengegangen, sondern von den USA und Deutschland bewusst aufgegeben worden.
Sehen Sie irgendwo eine Lösung? KENSBOCK-RIESO Es geht nur noch um die Rettung Einzelner, der vielen Ortskräfte und auch der Mitarbeiter der Nicht-regierungsorganisationen, die seit Jahren in Afghanistan großartige Arbeit geleistet haben und die sich jetzt in Kabul versteckt halten, bis sie irgendwie aus dem Land können. Wer es nicht bis Kabul geschafft hat, ist sowieso auf sich allein gestellt. Es sind sehr viele menschliche Schicksale, um die es jetzt noch geht. Aber das große Ganze ist nicht mehr zu retten.
Glauben Sie, dass irgendetwas bleibt von dem, was in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan geleistet wurde?
KENSBOCK-RIESO Ich würde es mir wünschen. Aber sehen Sie es mal so: Die Kinder, die nach 2002 geboren wurden, denen Bildung ermöglicht wurde, die in relativer Ordnung aufgewachsen sind – was können die nun, in einer von den Taliban begrenzten Welt, mit ihrem Wissen noch anfangen?