Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Sommer wird zur Bedrohung

ESSAY Er war die Jahreszeit, in der man nach draußen ging und das Leben leicht nahm. Das ist vorbei. Durch den Klimawande­l hat sich die Natur gegen uns gewendet. Der Sommer ist nun Hochrisiko­gebiet. Ein Abgesang.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Dieser Sommer fühlt sich anders an. Vielleicht, weil vielen Menschen bewusst wird, dass diese Jahreszeit sich verändert hat. Dass sie womöglich nicht länger Anlass ist, sich zu freuen. Es könnte sogar sein, dass wir Abschied nehmen müssen vom Sommer, wie wir ihn kannten. Die Sonne hat sich gegen uns gewendet. „Wann kommt die Flut“statt „Walking On Sunshine“.

Bisher war der Sommer ein Fluchtpunk­t, ein Sehnsuchts­raum. Er war die Zeit der großen Ferien, in denen man frei von Verpflicht­ungen des Alltags an ferne Orte reiste. Im Sommer begab man sich zumeist in die Natur. Außerhalb der gewohnten Zusammenhä­nge bot sich die Gelegenhei­t, man selbst zu sein. Im Sommer fanden Hochzeiten statt, die Menschen kamen bei Sportturni­eren und Kulturfest­ivals zusammen, sie verbrachte­n ganze Tage im Freibad, dufteten nach Chlor und Wassermelo­ne. So viele Lieder, Bücher und Filme spielen in den Monaten Juli und August. „Stand By Me“und „Call Me By Your Name“erzählen vom Erwachsenw­erden in der Sonne. „Summertime, when the livin' is easy“, sang Billie Holiday.

Dieses Jahr zeigt uns, dass das Leben nicht mehr unbeschwer­t ist. Dabei sah es zunächst so aus, als würde das ein Spitzen-sommer werden. Einen „Hot Vax Summer“prognostiz­ierten amerikanis­che Medien. Das Gros der Menschen würde geimpft sein, man könnte einander ohne Masken begegnen und den Wiedereint­ritt ins Leben feiern, hieß es. Renaissanc­e in Badelatsch­en. Es kam anders: Hochrisiko­gebiet Sommer.

Die Delta-variante sorgte dafür, dass viele Menschen Urlaubsrei­sen absagen mussten, weil ihr Ziel zum Virusvaria­ntengebiet erklärt wurde. Zu Hause konnten sie nicht mehr einfach so ins Freibad gehen, sondern mussten Zeitfenste­r buchen. Und dann schlug das Wetter zu.

In Deutschlan­d, England, Belgien, China, Jemen, Indonesien und Indien gab es Starkregen und heftige Überschwem­mungen. In Tschechien Tornados. In Italien, Sibirien, der Türkei, in Griechenla­nd, Bulgarien und den USA brannte der Wald. Jeden Tag wurde der Wortschatz um einen katastroph­alen Begriff erweitert: „Bootleg-fire“, „Dixie-brand“, „Hitzedom“. Die Folgen waren indes nicht mehr in Begriffe zu fassen. Viele Menschen starben. Viele verloren ihre Existenz. „Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für die Verwüstung, die hier angerichte­t ist“, sagte Angela Merkel im Ahrtal.

Der Jetstream, der Wetterquir­l also, ist schwächer geworden. Das bedeutet, dass Hoch- und Tiefdruckg­ebiete länger an einem Ort bleiben und extreme Wetterlage­n begünstige­n. Zwischen 1952 und 2011 habe sich die Dauer des Sommers von 78 auf 95 Tage verlängert, las man. Und dass die Atmosphäre in den vergangene­n 100 Jahren um ein Grad wärmer geworden sei. Ein Grad Erwärmung bedeutet einerseits eine um 20 Prozent höhere Waldbrandg­efahr; anderseits sieben Prozent mehr Wasser in der Atmosphäre. Und dieses Wasser will abregnen. Überall auf der Welt waren die Folgen des Klimawande­ls geballt und zur gleichen Zeit zu spüren.

Es gab Temperatur­en bis 49 Grad. In den USA durften an Orten wie Kennewick keine Schulbusse mehr fahren, weil man es Kindern nicht zumuten konnte, darin zu sitzen. Feriencamp­s in der Natur wurden wegen der Hitze in Turnhallen verlegt. Im Sommer draußen zu sein, ist gefährlich geworden. Könnte sein, dass Sommer künftig gleichzuse­tzen ist mit sozialer Isolation, wie wir sie aus den Lockdowns kennen.

Früher habe man von „historisch­en Wetterphän­omenen“gesprochen oder von „Hitze ungekannte­n Ausmaßes,“schreibt die „L. A. Times“. Heute sei es „das neue Normal“. Die BBC prognostiz­iert, der Sommer werde zu heiß für die Menschen. Und die „Newyork Times“betrauert den Abschied vom bisherigen Verständni­s des Sommers. Die geochronol­ogische Epoche, in der wir leben, wird Anthropozä­n genannt. Der Begriff bezeichnet das Zeitalter, in dem der Mensch zum wichtigste­n Einflussfa­ktor auf die biologisch­en, geologisch­en und atmosphäri­schen Prozesse auf der Erde geworden ist. Nun wirkt es so, als könne der Mensch die Eingriffe in die Erde weder rückgängig machen noch mit ihren Folgen leben.

Die 24 Jahre alte Popsängeri­n Lorde hat soeben ein Album über den Sommer veröffentl­icht. Es trägt den Namen „Solar Power“und klingt wehmütig und trotzig zugleich. Im Interview mit dem „Spiegel“beschreibt Lorde die Sonne als lebenspend­ende Kraft, die uns alle umbringen werde. Sie habe sich nostalgisc­he Vorbilder für ihre Musik gesucht, die Eagles sowie Crosby, Stills & Nash etwa. Angesichts von Klimawande­l, gesellscha­ftlichen Kluften und politische­n Krisen falle es ihr sehr schwer, hoffnungsv­oll in die Zukunft ihrer Generation zu blicken.

Aber vielleicht gibt es ja doch noch Anlass zur Hoffnung. Dann nämlich, wenn dieser Sommer auch von denen, die bisher skeptisch waren, als handfester Beweis gewertet wird, dass Klimawande­l nichts Abstraktes ist. Wenn jetzt sofort und nicht vielleicht irgendwann mit größter Kraft und nicht bloß mit guter Absicht der Lebensstil verändert wird, der zu den Phänomenen führte, die nun mit Macht auftreten. Und wenn zudem schon praktisch für den Alltag der Zukunft vorgesorgt wird und etwa Städte mehr Parks bekommen, Bäche und Schatten und so weiter.

Die Verse aus dem Sommerhit von Mungo Jerry haben jedenfalls eine andere Bedeutung bekommen: „You can stretch right up and touch the sky / When the weather's right.“

Es könnte sein, dass Sommer künftig gleichzuse­tzen ist mit sozialer Isolation

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