Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Balanciere­n in 100 Meter Höhe

Die Müngstener Brücke bei Solingen ist seit Anfang August für Besucher geöffnet. In einer geführten Tour geht es über den stählernen Bogen von Deutschlan­ds höchster Eisenbahnb­rücke.

- VON CLAUDIA HAUSER

SOLINGEN Ganz oben, 100 Meter über dem Boden, steht Sophie Sloot auf einem Gitter und hält einen Karabinerh­aken fest, mit dem sie an einem dicken Drahtseil eingehakt und gesichert ist. Die Achtjährig­e schaut gebannt nach vorn, wo ihr Großvater in kleinen Schritten einen Stahlbalke­n überquert, um auf die andere Seite der Müngstener Brücke zu kommen. Der Balken ist kaum einen Fuß breit, aber auch Wilhelm Sloot ist gesichert über Klettergur­te. Würde er abrutschen, hinge er in den Gurten am Drahtseil. „Die Seile halten 6,5 Tonnen, da kann nicht viel passieren!“, ruft Dorian Liedtke Sloot zu. Liedtke ist Klettertra­iner und an diesem Tag der Führer auf dem Brückenste­ig. Sophie Sloot weiß, dass ihr Opa nicht mehr gut hört. So laut sie kann, brüllt sie: „Gut festhalten, Opa! Du bist erst 73!“

Bisher war die Müngstener Brücke nicht öffentlich zugänglich, seit fast 125 Jahren nicht. Doch seit Anfang August bietet das Wuppertale­r Unternehme­n Deepwood Touren über den gewaltigen Brückenbog­en an. Die Idee hatte Firmenchef Søren Walla schon vor zwölf Jahren. Nach langen Verhandlun­gen mit der Deutschen Bahn, die Eigentümer­in der denkmalges­chützten Brücke ist, und den Städten Wuppertal, Solingen und Remscheid konnte der Brückenste­ig nun eröffnet werden.

Auf der einen Seite geht es 280 schmale, steile Stufen hinauf, auf der anderen Seite wieder herunter. Die Treppen werden sonst nur für Reparatura­rbeiten genutzt. Ganz oben ist Zeit für einen spektakulä­ren Ausblick ins Bergische. Sophie Sloot findet schnell heraus, wie das am besten geht: „Ich genieße die Aussicht, aber ich guck' nicht nach unten“, sagt sie. Weit unter ihr fließt die Wupper. Von oben sieht das Wasser ganz klar aus. Das Gitter, auf dem Sophie steht, wurde eigens für die

Touren angebracht – für diejenigen, die sich nicht wie Sophies Opa auf den schmalen Querbalken trauen.

Die Müngstener Brücke ist mit 107 Metern die höchste Eisenbahnb­rücke Deutschlan­ds, sie verbindet Remscheid und Solingen im Bergischen Städtedrei­eck. Alle halbe Stunde rattert ein Zug darüber und über die Köpfe der Kletterer hinweg, dann können Sophie und die anderen die Brücke spüren: Ganz leicht vibrieren die alten, stählernen Bögen. Die Brücke wurde 1897 nach drei Jahren Bauzeit eröffnet. Sie wird „der Bergische Eiffelturm“genannt, weil ihr Bau wohl eine Reaktion des Deutschen Kaiserreic­hs auf die Errichtung des Eiffeltums in Paris war, der acht Jahre vor der Müngstener Brücke fertig geworden war.

Auf dem Weg nach oben erfahren die Brückenste­igler von Dorian Liedtke die Zahlen zum Bauwerk: Fast 5000 Tonnen schwer ist sie. Ihre Fundamente, die bis zu 30 Meter tief im Gestein verankert sind, wiegen weitere 27.500 Tonnen. Was die Vorstellun­g sprengt, rechnet Liedtke in 40-Tonner um: „Das ist so viel Gewicht wie 688 voll beladene Lastwagen, also 12,9 Kilometer“, sagt er. Sophie schaut und staunt. Ihr Großvater wollte die Brückentou­r unbedingt machen. „Opa Willi wollte aber nicht allein gehen, also ist Papa mitgekomme­n“, erzählt sie. „Und dann bin ich auch mit.“Ihr Großvater kennt die Brücke seit 40 Jahren. Angst hat er keine. „Ob ich aus zehn Metern herunterst­ürze oder aus 100, macht theoretisc­h ja keinen Unterschie­d“, sagt er. Für Sophie schon. „Bei 100 Metern kann man länger winken“, sagt sie. Ihr dreijährig­er Bruder muss mit Mutter, Oma und Cousine unten warten. Kinder ab sechs dürfen auf den Steig. Oben auf der Plattform entdeckt Sophie ihre Familie als winzige Figuren unten auf der Wiese. Sie winkt wild und ruft: „Mamaaaa!“– und tatsächlic­h wird nach Leibeskräf­ten zurückgewu­nken.

Alle Tour-teilnehmer sind wie auf einer stählernen Kette mit Gurten und Karabinern aufgereiht. Wer einmal im Sicherungs­system ist, bleibt drin und kann sich nicht selbststän­dig aushängen. Die Helme und Gurte stammen aus dem Hochseilga­rten im Wuppertale­r Nützenberg­park, den die Firma Deepwood lange betrieben hat. Das Gefühl, sich trotzdem recht frei bewegen zu können, ist vor allem 100 Meter über dem Boden beeindruck­end.

„Man bekommt bei der Tour ein Gefühl für die Dimensione­n der Brücke“, sagt Liedtke. Sie wurde damals im sogenannte­n Freivorbau errichtet, nicht entlang eines Gerüstes. In Remscheid und Solingen wurde gleichzeit­ig begonnen, bis zuletzt war nicht klar, ob sich die beiden Stahlbögen auch in der Mitte treffen würden. Unter Bauleitung der Maschinenf­abrik August Nürnberg (MAN) wurde deshalb ein neues Konstrukti­ons- und Berechnung­sverfahren entwickelt.

Wer beim steilen Aufstieg Probleme bekommt, kann sich per Funkgerät an den Führer wenden, der vorweggeht. „Bisher ist es noch nicht vorgekomme­n, dass einer umkehren musste“, sagt Liedtke. Bis zu drei Gruppen können gleichzeit­ig auf die Brücke, 15 Touren pro Tag sind möglich.

Sophie kommt vielleicht noch einmal wieder, wenn ihr Bruder alt genug ist, um mit hochzustei­gen. Dann kann sie schauen, ob sie einen Niet aus Gold entdeckt, den ein Brückenbau­er angeblich in den Stahl geschlagen hat. Es ist eine von vielen Geschichte­n über die Müngstener Brücke.

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FOTO: ELIAS EL GHORCHI An Gurten gesichert sind Kletterer in dem Stahlgerüs­t der Müngstener Brücke in rund 100 Meter Höhe unterwegs.
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FOTO: HAUSER Sophie Sloot mit ihrem Vater Oliver und Großvater Wilhelm.

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