Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Was wird aus Manfred Weber?
Eigentlich müsste Parlamentspräsident David Sassoli in wenigen Monaten Platz machen für den Niederbayern – doch der Italiener will nicht weichen.
BRÜSSEL Ein Abgeordneter im Europaparlament hat Gründe, neidvoll auf seinen Parlamentarierkollegen im Bundestag zu schauen. Bundestagsabgeordnete verdienen mehr: Ihre Diät liegt mit 10.083,47 Euro über der Entschädigung von 8995,39 Euro monatlich, die Europaparlamentarier bekommen. Im Europaparlament muss man auch mehr arbeiten, weil es an mehr Sitzungswochen tagt als das nationale Parlament. Außerdem ist es leichter, als Bundestagsabgeordneter mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Es gibt wohl nur einen einzigen Job im Europaparlament, der heraussticht. Sogar ein Wagen mit Fahrer, der im Heimatwahlkreis zur Verfügung steht, ist möglich. Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der EU treffen, darf man dabei sein. Zwar nicht als vollwertiges Mitglied der Runde. Bevor es beim Europäischen Rat zur Sache geht, gibt es aber eine halbe Stunde die Gelegenheit, die Position des Europaparlaments vorzutragen. Sogar mit dem Titel „Präsident“kann man sich schmücken. Damit ist der Präsident des Europaparlaments zumindest dem Titel nach auf einer Ebene mit den Chefs der beiden anderen Eu-institutionen: der Präsidentin der Eu-kommission, Ursula von der Leyen, und Ratspräsident Charles Michel, der die Treffen der Staats- und Regierungschefs leitet.
Seitdem das Europaparlament 1979 als einziges nationenübergreifendes Parlament der Welt gegründet wurde, gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Zur Hälfte der fünfjährigen Wahlperiode wechselt der Parlamentspräsident. Bis auf drei Ausnahmen teilen sich seitdem die beiden europäischen Parteienfamilien der Christdemokraten (EVP), denen die deutschen Unionsabgeordneten angehören, und der Sozialisten, denen die deutschen Spd-abgeordneten angehören, die Amtszeiten auf. Mal ist ein Sozial-, mal ein Christdemokrat dran.
In der Fotogalerie der Präsidenten auf dem Weg zum Brüsseler Plenarsaal gibt es lediglich das Bild eines Europaabgeordneten, der das prestigeträchtige Amt zweimal innehatte. Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz war von 2012 bis 2017 an der Spitze des Parlaments. Schulz hat viel daraus gemacht. Als Parlamentspräsident wurde er ein Europapolitiker, der bundesweit bekannt wurde. Er wurde so populär, dass die SPD ihn zum Kanzlerkandidaten nominierte – und nach seinem schlechten Abschneiden 2017 fallenließ.
Demnächst steht der Wechsel im Amt des Parlamentspräsidenten wieder an. Hinter den Kulissen des Parlaments aber rumort es. Ende des Jahres müsste der amtierende Präsident, der Sozialdemokrat David Sassoli, seinen Posten abgeben an einen Bewerber aus der christdemokratischen Parteienfamilie. Eigentlich. Doch offenbar will der Italiener Sassoli nicht weichen. Der ehemalige Tv-moderator argumentiert, dass er Verlängerung verdient habe, weil er coronabedingt seine Amtszeit gar nicht richtig nutzen konnte. In 14 von 30 Monaten, die seine Amtszeit umfasst, tagte das Plenum nur im Hybrid-modus.
Offiziell hat Sassoli den Anspruch auf Verlängerung noch nicht gestellt. Doch es wird aufmerksam registriert, dass Sassoli verstärkt den Kontakt zu den Chefs der 26 nationalen Delegationen in der Fraktion der 146 Sozialisten sucht. „Ich bin sicher, dass Sassoli will“, sagt ein Abgeordneter mit guten Drähten ins Präsidentenbüro.
Es werden bereits Argumente gesucht, die ihm helfen könnten. Der Parlamentspräsident ist das einzige Spitzenamt, das Sozialdemokraten noch auf Eu-ebene haben. Ratspräsident Michel ist Liberaler, die Christdemokraten führen die Kommission, auch der Rechnungshof wird von Klaus-heiner Lehne, einem ehemaligen Cdu-europaabgeordneten, geführt. Ohnehin gebe es sehr viele Deutsche in europäischen Spitzenämtern. Außerdem wäre Sassoli gar kein Präzedenzfall, wenn er fünf Jahre an der Spitze des Hohen Hauses bliebe, Martin Schulz hatte ja auch zwei Amtszeiten.
Sassolis Versuch, „den Schulz zu machen“, stößt bei den Christdemokraten auf Widerstand. Der Chef der deutschen Unionsabgeordneten, Daniel Caspary, droht den Sozialisten bereits: „Wenn sich die Sozialisten nicht mehr an unsere Absprache erinnern, machen wir es beim nächsten Mal mit den Liberalen, und die Sozis gehen künftig komplett leer beim Posten des Parlamentspräsidenten aus.“Doch die Sorgen der EVP sind berechtigt: Schon 2017 wurden die Sozialisten wortbrüchig und schickten mit Gianni Pitella einen Gegenkandidaten. In einem späteren Wahlgang wurde dann doch der Christdemokrat Antonio Tajani gewählt.
Sassolis Machtanspruch kollidiert mit der Karriereplanung des Niederbayern Manfred Weber (CSU). Der 48-Jährige ist Chef der Evp-fraktion im Europaparlament, die mit ihren 178 Abgeordneten die größte Gruppe bildet. Eigentlich wollte Weber Kommissionspräsident werden, als Spitzenkandidat der Christdemokraten holte er bei der Europawahl 2019 zwar die meisten Stimmen und leitete daraus den Anspruch ab, Kommissionspräsident zu werden. Doch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron bremste Weber aus, dem er das Format für den Job absprach, und drückte bei einem Gipfel in Brüssel Ursula von der Leyen durch.
Von dieser Schlappe hat sich Weber bis heute nicht richtig erholt. Der Bayer, der auch CSU-VIZE ist, tritt seitdem karrieremäßig auf der Stelle. Seine Chancen, nach der
Wahl ins Bundeskabinett berufen zu werden, gelten als gering. Deshalb will er wie seinerzeit Schulz das Amt nutzen, um seine Reputation so zu steigern, dass er sich für Höheres qualifiziert. Mit dem Rückenwind als Parlamentspräsident strebt er wohl an, 2023 erst wieder Spitzenkandidat und dann Kommissionspräsident zu werden. Dass diesmal seine Rechnung aufginge, wird in Brüssel bezweifelt.
Weber hat seinen Anspruch, Parlamentspräsident in der zweiten Hälfte der Wahlperiode zu werden, in jüngster Zeit noch nicht erneuert. Er zaudert viel. So war es bei der Spitzenkandidatur, so war es beim Rauswurf des radikalen ungarischen Fidesz aus der Fraktion, so dürfte es auch diesmal sein. Es wird aber fest damit gerechnet, dass er seinen Hut in den Ring wirft.
Ein Selbstläufer würde die Kandidatur nicht. Er bräuchte nicht nur die 178 Stimmen seiner Fraktion, sondern auch noch viele von den Sozialisten (146) und den Liberalen (98), um die nötige Mehrheit von 352 Abgeordneten zu holen. Die Grünen mit 73 Sitzen sind nicht Teil der sogenannten Von-der-leyen-koalition im Europaparlament, die das Personalpaket von 2019 mitgetragen hat. Auch die Stimmen der Liberalen sind Weber nicht sicher. Dem Fraktionschef der Liberalen, Dacian Ciolos, wird kein gutes Verhältnis zu Weber nachgesagt. Ciolos ist Rumäne, hat aber eine große Nähe zu Macron. Gut möglich, dass dieser Weber ein zweites Mal ausbremst.
Es wird also auf die Sozialdemokraten ankommen. Stehen sie zur Verabredung von 2019, oder werden sie vertragsbrüchig? Nicht einmal eine Verbrüderung mit Liberalen und Grünen würde den Sozialisten ausreichen, um einen eigenen Kandidaten durchzubringen. Neulich hat die Fraktionschefin der Sozialisten, Iratxe García, Weber ein Signal gegeben, in welche Richtung man denkt. Als Weber im Plenum Kritik am Aufbauplan der sozialistischen Regierung Spaniens übte, warnte die Spanierin den Deutschen, es sich mit den Sozialisten nicht zu verscherzen: Er habe doch noch etwas vor. Entspannen kann sich Weber aber nicht. Bei den Sozialisten gibt es längst Überlegungen, die ihm weh tun könnten. Die Drohung lautet: Wir könnten den Anspruch der EVP auf das Amt zwar akzeptieren, aber unseren Unmut mit dem Kandidaten deutlich machen, indem wir uns enthalten.
Nur mit einem schlechten Wahlergebnis und womöglich überhaupt nur dank der Stimmen von rechtsaußen gewählt zu werden – das wäre die Höchststrafe.