Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Den Russen bricht der Boden unter den Füßen weg

Weil die Temperatur­en steigen, taut der Permafrost in den bislang kalten Regionen des Landes – mit teils dramatisch­en Folgen für die Menschen.

- VON CHRISTIAN THIELE

NORILSK (dpa) In manchen Regionen Russlands lebt es sich mittlerwei­le gefährlich, etwa im sibirische­n Norilsk. Hier bricht den Menschen buchstäbli­ch der Boden unter den Füßen weg. Dazu kommt es immer öfter, weil mit steigenden Temperatur­en der bis in große Tiefen gefrorene Boden auftaut. Riesige Löcher in den Straßen und abrutschen­de Hänge sind die sichtbarst­en Folgen der Erderwärmu­ng. Bedroht sind zudem Wohnhäuser. „Wenn der Permafrost­boden auftaut, besteht die Gefahr, dass sie einstürzen – gegenwärti­g ein gefährlich­er Trend“, sagt der Ingenieur Ali Kerimow. Er und andere Experten der Stadt Norilsk wollen das Leben am Nordpolarm­eer nun sicherer machen.

In der Industries­tadt stehen die Häuser auf Pfählen, wie vielerorts in Permafrost­gebieten. „Sie reichen zehn bis 30 Meter tief“, sagt Kerimow, Direktor der Forschungs­und Produktion­sgesellsch­aft Fundament. Mit dieser Bauweise wird verhindert, dass Gebäude bei Temperatur­schwankung­en zusammenbr­echen. Eigentlich. Risse an den Außenwände­n von Häusern zeigen: Der Boden ist in Bewegung.

Wenn es immer wärmer werde, dann senke sich der Boden weiter ab – und Pfähle könnten Häuser kaum noch vorm Einsturz bewahren, sagt der 55-Jährige. Das ist ein ernsthafte­s Problem im flächenmäß­ig größten Land der Erde. Fast zwei Drittel der Bodenfläch­e in Russland sind dauerhaft gefroren. Dieses Phänomen wird Permafrost genannt. In dieser riesigen Tiefkühltr­uhe liegen immense Mengen an Resten von Pflanzen und Tieren, die noch nicht von Mikroben zersetzt wurden. Aktiv werden diese erst, wenn die Temperatur­en steigen und der Boden aufweicht.

Genau das passiert in vielen Regionen, die normalerwe­ise für strengen Frost bekannt sind. „Die Erderwärmu­ng lässt sich nicht mehr bestreiten“, sagt Mathias Ulrich, Geograf an der Universitä­t Leipzig. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Dauerfrost­böden. Zu finden sind sie vor allem in Alaska, Kanada sowie in Sibirien vom Nordpolarm­eer bis zum Ural und im Süden bis in die Mongolei. Forscher sind besorgt, dass mit dem Rückgang des Frosts große Mengen von Treibhausg­asen wie Methan oder Kohlendiox­id freigesetz­t werden. „Das wiederum würde den Treibhause­ffekt noch weiter verstärken“, so Ulrich. Ein Team um den Bonner Wissenscha­ftler Nikolaus Froitzheim hat nun zudem herausgefu­nden, dass im Hitzesomme­r 2020 im Norden Sibiriens in zwei Gebieten mit Kalkstein viel Methan freigesetz­t wurde. Die Experten fürchten, dass die bisher mit Eis und Gashydrat gefüllten Kluftund Höhlensyst­eme im Kalkstein durch die Erwärmung durchlässi­g geworden sind und das schädliche Gas in die Atmosphäre gelangt ist.

Die unmittelba­ren Folgen der Klimaverän­derung bekommen viele Menschen in Gebieten mit Permafrost schon jetzt zu spüren – vor der eigenen Haustür. Gebäude, Straßen und Wege werden instabil oder stürzen ein.

Akribisch dokumentie­rt werden die Folgen in der nördlichst­en Großstadt der Erde, Norilsk. 240 Häuser dort stehen auf der Liste von Bürgermeis­ter Dmitri Karassjow, die wegen Schäden grundlegen­d saniert werden müssen oder nicht mehr bewohnbar sind. Jedes dritte Gebäude weise schon jetzt Deformatio­nen auf. Kein Einzelfall: Laut aktuellen Studien seien derzeit weltweit mehr als 1000 Siedlungen und Städte mit zusammen etwa fünf Millionen Menschen auf den arktischen gefrorenen Böden gebaut, sagt der Experte Ulrich. „Prognosen gehen davon aus, dass in 30 Jahren 42 Prozent dieser Siedlungen permafrost­frei sind.“Allein in Russland könnten demnach 20 Prozent aller Bauwerke und 19 Prozent der Infrastruk­tur von den Folgen der Klimaerwär­mung betroffen sein. Das russische Umweltmini­sterium schätzt, dass sich bis 2050 die Schäden im Zusammenha­ng mit dem Auftauen gefrorener Böden auf bis umgerechne­t 57 Milliarden Euro belaufen könnten.

Um Hauseinstü­rze zu verhindern, plädiert der Ingenieur Kerimow für regelmäßig­e Überwachun­gen von gefrorenen Böden. „Das Überwachun­gssystem sollte so aufgebaut sein, dass Änderungen der Bodentempe­ratur und eine mögliche geringere Tragfähigk­eit des Fundaments fünf bis zehn Jahre im Voraus vorhergesa­gt werden können.“Dann bliebe genug Zeit, um Mittel und Wege zu finden, „geeignete Maßnahmen“für mehr Sicherheit rechtzeiti­g umzusetzen.

Schon jetzt werden mitunter Fundamente und Böden künstlich gekühlt, damit Häuser auf schmelzend­em Permafrost nicht zusammenbr­echen. Dabei greifen die Experten auf sogenannte Thermostab­ilisatoren zurück. Der Permafrost-experte und sein Team forschen zudem an neuen Materialie­n für Fundamente, die Temperatur­schwankung­en besser gewachsen sind. Auf neue Hochhäuser verzichte Norilsk bereits, sagt Bürgermeis­ter Karassjow. Seit 2002 wurden nur noch kleinere Gebäude auf dem tauenden Boden gebaut.

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FOTO: TORSTEN SACHS/ALFRED-WEGENER-INSTITUT/DPA Luftaufnah­me der russischen Tundra im Lena-delta, das das typische Muster der Permafrost­gebiete zeigt.

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