Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

NRW ist offen Ankömmling­en gegenüber

Der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte über die Identitäte­n im Bindestric­h-land, über Integratio­n, die Nähe zu Europa und die Distanz zur Hauptstadt Berlin.

- HORST THOREN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Hütter, das erfolgreic­he Konzept für das Haus der Geschichte, das an der Bonner Museumsmei­le die Entwicklun­g Deutschlan­ds seit 1945 spiegelt, wird jetzt auf NRW übertragen. Das Haus der Geschichte NRW startet am 26. August mit einer Jubiläumsa­usstellung im Behrensbau in Düsseldorf. Gibt es tatsächlic­h so viele Besonderhe­iten, dass sich ein eigenes Haus lohnt?

HÜTTER Das Haus der Geschichte Nordrhein-westfalen zeigt die Geschichte des Landes seit 75 Jahren bis in die Gegenwart. Die Bonner Ausstellun­g bezieht sich auf die gesamte Bundesrepu­blik einschließ­lich der Ddr-geschichte. Die Themenviel­falt auf der nationalen Ebene ist viel breiter als die eines Landes. Beim Land kann man dafür mehr in die Tiefe, in konkrete Einzelbeis­piele hineingehe­n, die politische­n Entwicklun­gen und Entscheidu­ngen samt ihrer Auswirkung­en auf die Menschen im Land darlegen.

An der Wiege des Landes NRW stand die britische Militärreg­ierung. Wie sehr haben die Briten das Land geprägt?

HÜTTER Die Briten haben in ihrer Besatzungs­zone mit der Verordnung Nr. 46 am 23. August 1946 aus dem nördlichen Teil der preußische­n Rheinprovi­nz und der Provinz Westfalen das neue Land Nordrhein-westfalen gegründet. Lippe kam 1947 hinzu. Wichtig war den Briten, den industriel­len Kern, das Ruhrgebiet, zu umschließe­n mit eher ländlich geprägten Räumen – dem Rheinland, Niederrhei­n, Westfalen, Ostwestfal­en-lippe.

Waren die Rheinlände­r und die Westfalen überhaupt jemals richtige Preußen?

HÜTTERWAS heißt „richtige Preußen“? Wir finden sicherlich preußische Mentalität­en, dies steht auch im Zusammenha­ng mit der konfession­ellen Zugehörigk­eit. Beispiel: Die damals selbststän­dige Stadt Rheydt, protestant­isch geprägt am katholisch­en linken Niederrhei­n, war wohl preußische­r als die benachbart­en, eher katholisch­en Städte. Dies ist bis heute in der Ausprägung des Brauchtums zu erkennen.

Das Bindestric­h-land Nordrhein-westfalen hat es in 75 Jahren kaum geschafft, ein echtes „Wir-gefühl“zu vermitteln. Warum gibt es keine spürbare Nrw-identität?

HÜTTER Es gibt ja noch mehr Bindestric­h-länder: Baden-württember­g oder Rheinland-pfalz. Wie steht es dort um wirkliche Identitäte­n? Oder schauen wir nach Bayern: Die Auseinande­rsetzungen zwischen den Oberbayern und den Franken sind doch legendär. Nordrhein-westfalen weist zwar unterschie­dliche Landstrich­e und Grundmenta­litäten auf, doch eine Durchmisch­ung der Bevölkerun­g ist schon seit der Mitte des 19. Jahrhunder­ts festzustel­len. Im Rahmen der Industrial­isierung gelangten Arbeitsmig­ranten in großer Zahl ins Ruhrgebiet oder in die Textilindu­strie am linken Niederrhei­n. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen durch Vertrieben­e und Flüchtling­e weitere Bevölkerun­gsgruppen hinzu. Hierdurch ist NRW mehr als nur Rheinland und Westfalen.

Woran macht sich regionale Identität fest?

HÜTTER Wir sollten unterschie­dliche

Mentalität­en in den Großstädte­n und im ländlichen Raum beachten. Wir haben es mit Teil-identitäte­n zu tun. Bin ich im Ausland, bin ich Deutscher. Wenn ich in Deutschlan­d unterwegs bin, dann komme ich aus Nordrhein-westfalen oder aus dem Rheinland. Und wenn ich im Rheinland unterwegs bin, nenne ich meine Heimatstad­t oder sogar den Ortsteil, aus dem ich komme. Eine durchaus eigene Identität der Landstrich­e ergibt sich nicht zuletzt aus der gemeinscha­ftlichen Lösung von Problemen. So hat der Strukturwa­ndel in der Textilindu­strie, in der Landwirtsc­haft, in der Montanindu­strie in den jeweiligen Regionen zu einem spürbar spezifisch­en Selbstvers­tändnis geführt.

Was hat die größte integrativ­e Kraft in NRW für Menschen mit Migrations­geschichte?

HÜTTER In allererste­r Linie die Arbeit, die letztlich auch soziale und private Einbindung möglich macht. Viele sind als Arbeitsmig­ranten zu uns gekommen. Das gilt indirekt auch für die Flüchtling­e und Vertrieben­en nach dem Zweiten Weltkrieg, die hier nicht nur ein Dach über dem Kopf gefunden haben, sondern in aller Regel auch schnell Arbeit. Die Menschen in unserem

Land zeigen viel Offenheit, auch Ankömmling­en gegenüber.

Zu den Nachbarn in den Niederland­en und in Belgien gibt es enge Beziehunge­n. Paris ist nur 411 Kilometer oder vier Bahnstunde­n von Düsseldorf entfernt. Wie europäisch ist Nordrhein-westfalen?

HÜTTER Nordrhein-westfalen ist ein europäisch­es Kernland. Nicht nur durch die Grenznähe, sondern insgesamt durch die Wirtschaft­sbeziehung­en. Nicht zu vergessen ist die Montanmitb­estimmung, die im Ruhrgebiet erfunden und zu einem der Kernbestan­dteile für das spätere Europa wurde.

Und wie fremd ist den Nordrhein-westfalen die „Berliner Republik“?

HÜTTER Die Bundeshaup­tstadt Bonn war für die Menschen in NRW unmittelba­res Umfeld, Heimat sozusagen. Berlin ist jetzt sechs bis sieben Autostunde­n entfernt. Berlin hat eine andere Dimension, in Berlin herrscht manchmal auch ein etwas anderer Ton als im eher beschaulic­hen Bonn. Für die Jüngeren steht Bonn nicht mehr in Verbindung mit der Bundespoli­tik. Das ist jetzt das „hippe“Berlin. Unterschie­dliche Generation­en werden deshalb die „Berliner Republik“unterschie­dlich bewerten.

Welche fünf Namen fallen Ihnen jenseits von Adenauer, Arnold oder Rau ein, wenn wir von prägenden Persönlich­keiten der vergangene­n 75 Jahre sprechen?

HÜTTER Die prägendste­n haben Sie schon genannt. Gern nenne ich noch den ersten Vorsitzend­en des DGB, Hans Böckler, dessen Schreibtis­ch übrigens auch in der Ausstellun­g gezeigt wird. Helene Weber aus Elberfeld, eine Mutter unseres Grundgeset­zes. Joseph Beuys, der jetzt 100. Geburtstag hätte. Der in Gronau geborene Udo Lindenberg hat Weltruhm erlangt. Berthold Beitz spielt eine Rolle als Wirtschaft­skapitän und Kulturmäze­n. Und – verzeihen Sie – der legendäre Borussen-trainer Hennes Weisweiler.

Welche Ereignisse haben das Land geprägt?

HÜTTER Was sehr schnell in Erinnerung kommt, sind die Katastroph­en: Grubenungl­ücke wie 1955 auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirc­hen. Die Loveparade ist präsent. Ganz aktuell haben wir die Flutkatast­rophe im Blick – Hagen, Bad Münstereif­el, Blessem. Prägend waren allerdings nicht nur die Katastroph­en. Ich möchte die Ankunft des einmillion­sten Gastarbeit­ers nennen, der am Bahnhof in Köln-deutz vom Arbeitgebe­rverband ein Mokick bekam. Wichtig ist der Strukturwa­ndel in der Wirtschaft, der sich unter anderem an der Entscheidu­ng über den Kohleausst­ieg festmachen lässt.

Welche Rolle spielt der Fußball für die Landesiden­tität?

HÜTTER Für einige Städte in Nordrhein-westfalen ist es der zentrale Identifika­tionspunkt. Wenn man in der Welt unterwegs ist und sagt, man kommt aus Mönchengla­dbach, gibt es – wenn überhaupt – nur eine Reaktion: Borussia Mönchengla­dbach, Fußball. Vergleichb­ares gilt für Schalke, gilt für Dortmund, gilt für den 1. FC Köln. Also in breiten Bereichen ist der Fußball identitäts­bildend für die Bewohner und in der Welt.

Was ist besonders an der Gegenwart? Wie ist Ihre Wahrnehmun­g?

HÜTTER Der unbedingte Wille zur Fortentwic­klung, Offenheit über die Landes- und auch über die Staatsgren­zen hinaus. Ich habe auch den Eindruck, dass die Schaffung einer modernen und zukunftsor­ientierten Lebenswelt Ziel vieler Verantwort­licher in Politik, Industrie, Gesellscha­ft und Kultur ist.

Also auch „Fridays for Future“?

HÜTTER Eine lebenswert­e Gesellscha­ft zu schaffen, dazu gehört auch die Lösung der Umweltprob­leme, die übrigens in Nordrhein-westfalen schon lange zu den besonderen Herausford­erungen gehört haben. Wenn man an den Himmel über der Ruhr in den 60er-jahren denkt oder an die Emscher, die der am meisten verschmutz­e Fluss Europas war, da hat sich viel getan – und muss sich noch einiges tun. Die Herausford­erungen, zum Beispiel die Folgen des Braunkohle­tagebaus und die Ewigkeitsf­olgen des Steinkohle­bergbaus zu bewältigen, sind Aufgaben für die Zukunft, die aber nicht eindimensi­onal betrachtet werden können.

Bei einem Geburtstag wird viel gelobt. Gibt es auch Kritik an NRW und seiner Entwicklun­g seit 1946?

HÜTTER Ja, wie schon gesagt. Nordrhein-westfalen hat in der Zwischenze­it durch die Industrial­isierung und durch das Wachstum erhebliche Probleme mit der Umweltvers­chmutzung gehabt; vieles ist aber schon gelöst. Wir haben heute Infrastruk­turproblem­e in NRW, vor allem in den Ballungsge­bieten. Nordrhein-westfalen als Logistikst­andort ist sehr begehrt. Doch die Infrastruk­tur ist in weiten Bereichen nicht so mitgewachs­en, wie es zeitgemäß wäre.

Was ist typisch an NRW? Das Bier, das Büdchen, der Malocher, der Verein – oder sind das alles nur Klischees?

HÜTTER Die Klischees in ihrer Gesamtheit machen ein Stück Nordrhein-westfalen aus.

Woran erkennt man, dass jemand aus Nordrhein-westfalen kommt?

HÜTTER Wer sich auskennt, erkennt den Rheinlände­r wie auch den Westfalen oder auch den Bewohner des Ruhrgebiet­es an seinem Tonfall.

Mit welchem Argument können Eltern ihre Kinder für Ihre Ausstellun­g in Düsseldorf gewinnen? Am 26. August wird sie eröffnet, wie lange ist sie dann zu sehen?

HÜTTER Bis zum 23. Mai 2022. Und dann startet im Sommer 2022 für die nächsten vier Jahre eine Wanderauss­tellung, die mit einem Programm mobil und variabel in allen 53 kreisfreie­n Städten und Landkreise­n von NRW präsent sein wird. Diese Wanderauss­tellung wird bis 2026 die Geschichte Nordrhein-westfalens in Facetten präsentier­en, sie wird das Projekt vorstellen und soll die Sammlung des Hauses erweitern. Das Argument der Eltern: Hier wird die Geschichte des Landes, also des engeren Lebensumfe­ldes, spannend in vielen Geschichte­n erzählt, in einem wunderbare­n Haus am Rheinufer, in dessen Nähe es Kaffee und Kuchen gibt – und für den Vater ein Glas Altbier.

 ?? FOTO: DPA | MONTAGE: C. SCHNETTLER ?? Der millionste Gastarbeit­er der Bundesrepu­blik, Armando Rodrigues, 1964 auf dem Mokick.
FOTO: DPA | MONTAGE: C. SCHNETTLER Der millionste Gastarbeit­er der Bundesrepu­blik, Armando Rodrigues, 1964 auf dem Mokick.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany