Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der böse Spuk der Inzidenzen

ANALYSE Die Zahl der Neuinfekti­onen in Deutschlan­d steigt sprunghaft. Das scheint die Politik kaum zu kümmern. Doch trotz der hohen Impfquote und der geringen Zahl der schweren Fälle könnte die Dynamik gefährlich werden.

- VON MARTIN KESSLER UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Nordrhein-westfalen ist Vorreiter – und könnte gut auf diese zweifelhaf­te Ehre verzichten. Im bevölkerun­gsreichste­n Bundesland ist die Zahl der wöchentlic­hen Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner zum ersten Mal seit Monaten wieder dreistelli­g. Am Montag gab das Robert-koch-institut (RKI) ausgerechn­et zum 75. Geburtstag des Landes den Inzidenzwe­rt mit 103,3 an. Noch vor einer Woche lag die Zahl bei wenig mehr als der Hälfte. Von den 15 Städten und Landkreise­n mit der höchsten Zahl an Neufällen liegen allein 14 in NRW. Nach dem alten Infektions­schutzgese­tz müsste eigentlich die Bundesnotb­remse greifen. Doch das Corona-kabinett des Bundes beschloss am Montag lieber eine Abkehr vom System der Inzidenzen. Stattdesse­n soll die Rate der Krankenhau­seinweisun­gen maßgeblich werden. „Die 50er-inzidenz im Gesetz, die hat ausgedient“, sagte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) im Zdf-„morgenmaga­zin“und bezog sich auf den Wert, ab dem bislang regionale Corona-maßnahmen notwendig werden. Die Fachwelt reagiert positiv. „Mit steigender Impfquote in Deutschlan­d und der zunehmende­n Entkopplun­g von Inzidenz und Krankheits­last müssen Bund und Länder ihre Corona-politik neu ausrichten. Der Inzidenzwe­rt allein ist zur Steuerung der Corona-schutzmaßn­ahmen nicht aussagekrä­ftig genug“, sagte der Präsident der Bundesärzt­ekammer, Klaus Reinhardt, unserer Redaktion.

Warum haben sich die Inzidenzen so sprunghaft entwickelt? Fast alle Experten machen die hochanstec­kende Delta-variante, die aus Indien stammt, für den raschen Anstieg verantwort­lich. Sie ist um 40 Prozent infektiöse­r als die in Großbritan­nien entstanden­e Alpha-mutation des Coronaviru­s. Und die war schon zwischen 40 und 90 Prozent ansteckend­er als der Urtyp aus der chinesisch­en Millionens­tadt Wuhan. Ohne diese Varianten wäre das Virus derzeit kein Problem mehr, aber die schnelle Mutation des Erregers gehört eben zu dessen typischen Eigenarten. Idealer Übertragun­gsort waren vermutlich die großen Ansammlung­en junger Leute in den Großstädte­n. Entspreche­nd sind die Inzidenzen bei den 15- bis 34-Jährigen derzeit am höchsten. Die Zahl lag bei der jüngsten Rki-erhebung Ende vergangene­r Woche bei über 85, bei den über 80-Jährigen steckten sich innerhalb einer Woche pro 100.000 Personen nur zehn an.

Auch die erhöhte Mobilität in den Sommermona­ten und vor allem die Reisetätig­keit spielen eine große Rolle beim jüngsten Sprung der Infektione­n. Nach Rki-angaben ist jede vierte Infektion, die lokal geortet werden kann, im Ausland erfolgt. „Da diese Personen nach ihrer Rückkehr auch noch weitere Menschen in Deutschlan­d angesteckt haben können, spricht das für einen deutlichen Beitrag des Reisegesch­ehens zur Inzidenzen­twicklung“, sagt Jan Fuhrmann, der als Mathematik­er und Statistike­r an der Universitä­t Heidelberg die Verbreitun­g der Pandemie erforscht. Allerdings will der Corona-forscher nicht ausschließ­en, dass erst die verstärkte Kontrolle der Reisenden das ergeben hat. Das könnte den Effekt überschätz­en.

Wie werden sich die Zahlen entwickeln? Es gibt mehrere Szenarien in Abhängigke­it von der Impfquote und der Vorsicht der Bevölkerun­g. Derzeit sind gerade einmal 63 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und nur 18 Prozent der Jugendlich­en (zwölf bis 17 Jahre) vollständi­g geimpft. Selbst wenn die Gesamtquot­e in dieser Altersgrup­pe auf 75 Prozent steigt, würde die Zahl der Covid-patienten auf den Intensivst­ationen nach einer Rki-studie von derzeit 712 auf bis zu 2500 zum Jahresende hochschnel­len. Sollten die Menschen jedoch ihre Kontakte – anders als vom RKI angenommen – kaum verringern, könnten es nach einer Simulation mit dem Covid-19-rechner der Universitä­t Saarbrücke­n Ende September sogar 3600 Intensivpa­tienten sein. Die Inzidenz in Deutschlan­d würde danach zwischen 150 und 320 liegen. Bis zur bisherigen Höchstzahl von 5762 Intensivpa­tienten, die Anfang Januar registrier­t wurde, wäre es nicht mehr allzu weit.

Taugen die Inzidenzen noch als zentraler Indikator? Das RKI hält noch immer an den Inzidenzen als Frühwarnsy­stem fest. „Die Sieben-tage-inzidenz gibt die Geschwindi­gkeit an, mit der sich die Infektione­n verbreiten“, begründet das Institut sein Vorgehen. Dem schließt sich auch der Heidelberg­er Corona-forscher Fuhrmann an. Die Inzidenz könne einen wichtigen Hinweis auf Krankenhau­seinweisun­gen und die Belegung der Intensivst­ationen liefern. Allerdings, so Fuhrmann, sei mit ähnlichen Belastunge­n des Gesundheit­ssystems wie im Winter derzeit „erst bei deutlich höherer Inzidenz zu rechnen“.

Doch hier setzen die Probleme ein. Denn eine genaue Zahl wollen die meisten Forscher nicht nennen. Die Ministerpr­äsidenten und die Bundesregi­erung drängen die Fachleute, einen neuen Gesamtindi­kator für mögliche Corona-maßnahmen zu konstruier­en. Die Arbeitsgru­ppe Infektions­schutz der Landesgesu­ndheitsämt­er hat in Zusammenar­beit mit dem RKI dazu ein Papier erstellt. Neben der Inzidenz der Neufälle sollen dabei auch die Krankenhau­seinweisun­gen (Hospitalis­ierungen) und die Belegung der Intensivbe­tten mit Covid-patienten Berücksich­tigung finden. Alle drei Faktoren sollen dabei zu einer einheitlic­hen Kennzahl verschmolz­en werden. Noch streiten sich die Fachleute über die genaue Gewichtung. Unklar ist auch, ob das Alter und der Impfstatus der Infizierte­n sowie der Anteil der positiven Corona-tests in den Indikator einfließen sollen. Eines ist aber sicher: Als alleiniger Indikator haben die Inzidenzen ausgedient.

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