Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Der Dirigent, der Salzburg spaltet
Die Mozart-aufführungen von Teodor Currentzis polarisieren das Festspiel-publikum. Es hilft, genau hinzuhören.
Mit Sibirien assoziieren wir Bilder, an denen die Herren Tschechow und Dostojewski (Literatur), Stalin (Politik) und Ruge (Fernsehen) mitgewirkt haben. Die Mücken. Die Straflager. Die Kälte. Und die Transsibirische Eisenbahn fährt nur alle zwei Tage.
Sie hält allerdings in Nowosibirsk, und wer dort aussteigt, betritt eine Oase der Künste, vor allem der Musik. In Nowosibirsk war im Jahr 2003 auch der Grieche Teodor Currentzis ausgestiegen, ein paganinihafter Typ als Dirigent, der gern etwas anbrennen lässt, weil er auf heißer Flamme kocht. Lauwarm kann er nicht.
An Currentzis und sein nervöses Genie glauben längst die großen Häuser des Westens. Den Weg dorthin hat er sich meisterlich gebahnt. Als er auf CD Mozarts „Requiem“vorlegte, hielten die Fachleute den Atem an. Klar, das Orchester spielte auf historischen Instrumenten und heißt bis heute Musicaeterna, und der Kammerchor New Siberian Singers klang tatsächlich so gut wie der Monteverdi Choir aus London. Doch das Eigenwillige war bereits zu spüren. Vieles war atemberaubend leise, wie Currentzis überhaupt die Extreme liebt. Das „Dies Irae“war eine Beschreibung der Welt aus der Sicht des Jüngsten Gerichts.
Für Currentzis, den flammenden Missionar, war Sibirien wichtig, um aus der Abgeschiedenheit heraus die Welt zu entzünden. Er begreift Musiker als Jünger und spricht schon mal vom Wirken „wie in einer Bruderschaft“. Sieht man ihn dirigieren, glaubt mancher angesichts seiner suggestiven Art, der Leibhaftige stehe am Pult. Der 1972 in Athen geborene Musiker hatte schon früh eine bipolare Neigung entweder zum Eisigen oder zum Steppenbrand; dass er bei Ilya Musin in St. Petersburg studierte, war kein Zufall – der gilt als das große Schwungrad unter den Dirigierlehrern; Bychkov und Gergiev waren seine Schüler.
Für Currentzis war Mozarts „Requiem“kein philologisches Material, dem man sich mit der Lupe nähert. Er stieg hinein in die erste Kyrie-fuge, als zapfe er eine Starkstromleitung an, und ließ uns die Zentraltonart d-moll – Mozarts Farbe des Abgrunds – als Nachbeben des „Don Giovanni“erkennen. Diese Oper hat er nun bei den Salzburger Festspielen dirigiert, und man darf sagen: Salzburg hat er gespalten wie eine Axt den Scheit.
Die einen erkennen in seinem Musizieren die geheime Offenbarung des Teodor, ein priesterliches Wirken von höchster Erkenntnisdurchdringung. Die anderen glauben, er sei ein Hochstapler, der mit Hut und Schaftstiefeln durch Salzburg stapft oder per Damenrad zur Felsenreitschule fährt, als sei er der neue Boss und werde gleich edle Lipizzaner durch die Wiener-philharmoniker-gasse treiben.
Die Wahrheit liegt natürlich in der Mitte. Dass „Don Giovanni“diesmal, im Großen Festspielhaus, beinahe vier Stunden dauert, hat seinen Grund in den teilweise überaus gravitätischen Tempi, die allerdings durchdacht wirken; jeder Takt scheint das Resultat einer spirituellen Sitzung. Die Rezitative, am Hammerklavier improvisiert, sind köstlich. Anderswo klingt es wie Bohren mit schwerem Gerät in Mozarts Goldminen: Kontrabässe klingen bei Currentzis einfach lauter als andere Bässe. Einmal, zu Don Giovannis Arie, lässt er den Orchestergraben durch Stroboskop-blitze in eine Art Disco-licht tauchen. Currentzis' Motto: Der DJ bin ich. Langweilig ist das nie.
Die Inszenierung von Romeo Castellucci wirkt wie eine geistvolle Spielerei, die Don Giovanni und Leporello wie Zwillinge aussehen lässt, einen Konzertflügel vom Schnürboden auf die Bühne krachen lässt und alles in Weichzeichner hüllt: Die Bühne befindet sich hinter einem Gazeschleier.
Currentzis dirigierte einige Tage später ein Sinfoniekonzert mit Mozart, ebenfalls im Großen Festspielhaus, es gab den Eingangschor aus „Davide Penitente“KV 469, die „Maurerische Trauermusik“KV 477, die g-moll-sinfonie KV 550 sowie die „Jupiter-sinfonie“C-dur KV 551. Im Routenplaner dieses Abends stand: von der Finsternis ins Licht. Ein Kritiker, von Currentzis offenbar ordentlich benebelt, gab zu Protokoll, dass diese g-moll-sinfonie kaum jemals lauter als mezzoforte geklungen habe. Dann folgte sein Hammer-resümee: „Das hat man so noch nicht gehört.“Wir fanden es ganz normal laut, es waren ordnungsgemäß genug Kracher drin.
Derzeit tritt die deutschsprachige Musikkritik bei ihm allerdings das Gaspedal durch. Im „Spiegel“wurde Currentzis soeben „Mozart-zerstörer“genannt, die „FAZ“weilte angeblich dem „schamlosen Egotrip“eines Dirigenten bei, der alle Insignien eines „Sektenführers“und „Egomanen“trage. All diese Kollegen haben vermutlich nicht Currentzis' Neuaufnahme von Beethovens Siebter gehört, die eben keinen wütenden Retro-historismus bietet, sondern eine Aktualisierung aus stilistischer Informiertheit: Dieser Beethoven ist leicht, charmant, gewiss unbeugsam, aber nie despotisch.
Bereits die langsame Einleitung setzt ihre Akzente keinesfalls wie oberlehrerhafte Ausrufezeichen, nicht wie Boten des Zorns, sondern als atmende Gebilde, die sich im Moment des Entstehens gleich verändern, stets zu Schwingungen bereit. Schöner, geistreicher und unmissverständlicher kann man Beethoven derzeit vermutlich nicht spielen.
Natürlich macht es Teodor Currentzis Spaß, dass alle sich über ihn ereifern. Natürlich ist er auch ein Clown. Aber vieles von dem, was er tut, ergreift einen unmittelbar und rührt unser Herz. Und wenn er uns aufregt und wütend macht: Kann Musik Schöneres gelingen?