Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die persönliche Seite des Debakels
Im Bundestag verteidigt Angela Merkel ihre Afghanistan-politik und erzählt von einem Opfer, das sie kannte. Annalena Baerbocks Rede sticht heraus.
BERLINFÜR Angela Merkel wird es kein Tag wie jeder andere. Um 11.54 Uhr kommt die einst mächtigste Frau der Welt die Treppe in den Plenarsaal herunter. In der wahrscheinlich letzten Regierungsklärung ihrer regulären Kanzlerschaft wird sie gleich das größte außenpolitische Waterloo der Nachkriegsgeschichte einordnen und letztlich auf ihre Kappe nehmen müssen.
Merkel plaudert kurz mit ihrem langjährigen Widersacher Horst Seehofer, der alleine auf der Regierungsbank sitzt. Nagt es an ihm, dem bekennenden Herz-jesu-sozialisten, dass er als Csu-innenminister mit anderen Ressortchefs bei den afghanischen Ortskräfte zu lange bremste ? Fünf Meter weiter sind der Wahlkämpfer der Stunde, Olaf Scholz, und Pandemie-guru Karl Lauterbach ins Gespräch vertieft. Als Merkel dazukommt, begrüßt sie den SPD-GEsundheitsexperten mit der CoronaFaust. Dann wird es ernst.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schafft es in wenigen Worten, den richtigen Ton zu setzen. „Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert.“In 20 Jahren sei am Hindukusch jedoch die Saat der Freiheit gesät worden: „Daraus erwächst eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen!“
Jetzt kommt die Kanzlerin. Und sie bringt ernüchternde Nachrichten vom G7-gipfel mit. Schon in einigen Tagen könnte die Luftbrücke zu Ende sein. Us-präsident Joe Biden zeigt sich hartleibig. Ende August will er seine Truppen vom Kabuler Flughafen abziehen. Merkel setzt auf die Gespräche mit den Taliban. Wie lange aber werden die radikal-islamistischen alten, neuen Herren den Exodus afghanischer Eliten gestatten?
Merkel wird sehr persönlich. Sie erzählt von einem Beamten des Bundeskriminalamtes, der im Sommer 2007 bei einem Terroranschlag starb: „Ich kannte ihn gut, weil er zuvor in meinem Personenschutzkommando gearbeitet hat. Er war, wie damals so viele seiner Kollegen und Kameraden, mit großem Idealismus nach Afghanistan in den Einsatz gegangen. Nur wenige Wochen später, zum Ende des Jahres 2007, wäre sein Afghanistan-einsatz zu Ende gewesen, und er wäre in mein Personenschutzkommando zurückgekehrt.“Merkel hielt lange Kontakt mit den Eltern des toten Polizisten.
Der Sieg der Taliban sei für viele Afghanen, die an der Seite Deutschlands für Demokratie, Schulbildung und Frauenrechte eingetreten seien, bitter und eine „Tragödie“. Merkel spart nicht mit Selbstkritik. Aber sie ist bemüht, die Fehleinschätzungen ihrer Regierung in ein größeres Bild einzubetten, wenn man so will, auch auf andere abzuwälzen: Alle im Westen hätten unterschätzt, wie atemberaubend schnell die Taliban vorgerückt seien.
Merkel wirbt für ein differenziertes Bild. Die Terroristen seien nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erfolgreich vertrieben worden. Bundesverteidigungsminister Peter Struck von der SPD habe mit seinem Satz „Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt“recht gehabt: „Diesen Auftrag hat die Bundeswehr erfüllt.“
Aber warum versagten nun die Geheimdienste, warum zerbröselte die afghanische Armee, warum blockierten Bundesminister die Visaerteilung für Ortskräfte? Da sind von der Kanzlerin keine überzeugenden Antworten zu hören.
FDP-CHEF Christian Lindner hält eine bewusst staatsmännische Rede. Er sichert der Bundesregierung die Unterstützung beim Evakuierungseinsatz zu: „Die deutsche Bürokratie darf hier kein Menschenleben fordern.“Auch er ist für eine Aufarbeitung der Versäumnisse, personelle Konsequenzen müssten folgen. SPD und Grüne fordert Lindner auf, ein Bündnis mit der Linkspartei auszuschließen: „Mit einer Linken, die in dieser Situation die Soldaten im Stich lässt, ist kein Staat zu machen“, sagt er.
Die Linke enthält sich mehrheitlich beim Evakuierungsmandat.
Fraktionschef Dietmar Bartsch bezeichnet den Afghanistan-einsatz als „schwärzesten Punkt“in Merkels Kanzlerschaft.
Auch Grünen-kanzlerkandidatin Annalena Baerbock greift die Regierung frontal an: „Die Bilder aus Afghanistan sind kaum auszuhalten.“Sie fordert, dass der Bundestag noch vor der Wahl über einen Untersuchungsausschuss abstimmen solle: „Wir müssen dieses Desaster aufklären und nichts schönen.“Die Grünen-parteichefin spricht engagiert und prangert Versäumnisse präzise an. Baerbock wirkt nach ihren diversen Patzern wieder bei sich und hält ihre stärkste Rede seit ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin. Und auch Armin Laschet hat noch seinen Auftritt. Der Nrw-ministerpräsident spricht als Gast nicht zu Afghanistan, sondern zum Wiederaufbaufonds für die Flutopfer. Gemessen an den niederschmetternden jüngsten Umfragen, legt der Kanzlerkandidat einen kämpferischen Auftritt hin – laut beklatscht von der Unionsfraktion.