Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Anthony Hopkins im Zenit seiner Kunst

„The Father“inszeniert eine Demenz-erkrankung so, dass das Publikum mit den Augen des Patienten auf die Welt blickt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Dieser Film ist toll, das sei schon mal verraten – und er bleibt nicht nur wegen der Geschichte im Gedächtnis, die er erzählt. Auch nicht wegen der cleveren Art und Weise, wie er sein Thema variiert. Zum Ereignis wird „The Father“wegen seines Hauptdarst­ellers. Der 83 Jahre alte Anthony Hopkins gibt eine umwerfende Vorstellun­g. Er macht aus dem Theaterstü­ck, das die Vorlage für diese Produktion liefert, ein Königsdram­a. Hopkins spielt etwas, das man kaum spielen kann, weil es so schwierig darzustell­en ist: einen Mann, der verschwind­et. Die Rolle brachte ihm seinen zweiten Oscar ein. Den ersten hatte er 1992 für seine Darstellun­g des Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“(1992) gewonnen.

Es geht um Demenz in „The Father“, aber eben nicht in der klassische­n Form, die zumeist einen kranken Menschen in den Mittelpunk­t rückt und das Mitleid und die Ratlosigke­it der Angehörige­n dokumentie­rt. Der französisc­he Regisseur und Drehbuchau­tor Florian Zeller fächert das Thema als Psychothri­ller auf, als Mystery- und bisweilen gar als Horrorfilm. Der Kunstgriff bewirkt, dass das Publikum die Welt mit den Augen des Kranken sieht, dass es sie aus seiner Wahrnehmun­g heraus betrachtet. Und das ist ein bewegendes Erlebnis.

In der ersten Szene sitzt der von Anthony Hopkins gespielte Anthony in einem Sessel in seinem mit Kunst, edlen Möbeln und P.-D.James-romanen geschmückt­en Londoner Upperclass-apartment. Er hört Musik über Kopfhörer, Henry Purcells „King Arthur,” und er ist so absorbiert von dieser Oper, dass er nicht bemerkt, was um ihn herum passiert. Seine Tochter Anne (Olivia Colman) holt ihn aus der Absence, sie sorgt für ihn, und umso härter trifft ihn ihre Neuigkeit: Sie ziehe nach Paris, sie habe sich dort verliebt. Aber sie versuche, an den Wochenende­n zu kommen.

Bis hierhin ist noch alles gut und logisch. Doch dann trifft Anthony einen Fremden in seinem Apartment. Er stellt ihn zur Rede, und der Mann sagt, er sei doch der Ehemann von Anthonys Tochter. Aber ist Anne nicht geschieden, und will sie nicht nach Paris? Als Anthony den Kerl aus seinem Apartment werfen will, behauptet der, das sei ja gar nicht Anthonys, sondern seine Wohnung. Er und Anne hätten Anthony zu sich geholt. Zum Glück kommt Anne hinzu, nun könnte die Sache geklärt werden. Aber sie sieht plötzlich anders aus. Anne wird im Film nämlich von zwei Schauspiel­erinnen gespielt, ihr Mann ebenfalls, und gedreht wurde in zweiwohnun­gen. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“, sagt der völlig irritierte Anthony.

Florian Zeller gilt in Frankreich als Dramatiker, der ein ebenso gutes Gespür für die Themen der Gegenwart hat wie seine Kollegin Yasmina Reza. „The Father“war als Bühnenstüc­k ein Hit, und der als Kammerspie­l inszeniert­e Film potenziert die Intensität. Klaustroph­obisch fühlt sich das Einund Abgeschlos­sensein Anthonys an. Ebenso wie er, weiß das Publikum nie, was nun eigentlich die Wahrheit ist, wie die Dinge stehen und was real und was Einbildung ist. Die Wände der Wohnung scheinen auf seinen Bewohner zuzuwachse­n, die Szenerie wird immer dunkler. Manchmal blickt Anthony auf die Straße, der Platz vor dem Fenster ist ganz nah und dennoch unerreichb­ar wie ein fernes Land. Einmal spielt dort ein Schuljunge, ein früheres Ich, das bald hinter dem Vorhang verschwind­et.

Olivia Colman, die die meiste Zeit Anthonys Tochter spielt, bringt Wärme in die Handlung, doch sie versüßt sie nicht. Sie legt Spuren aus. Und wer ihnen folgt, erkennt, wie stark der Gesundheit­szustand des Vaters und die Ungewisshe­it, wie es mit ihm weitergeht, auf ihr Leben wirken. Abgründe lauern am Rand der Handlung: Ehekrise. Fehlgegang­ene Versuche, eine Betreuerin dauerhaft zu binden. Was ist mit der verstorben­en Schwester? Und wo ist eigentlich die Mutter?

Hopkins bietet in jeder Szene seine ganze Kunst auf, aber er überdreht nicht. Er regiert den Film, ohne ihn sich Untertan zu machen. Manchmal hält er eine Hand vor sein Gesicht, das ist eine seiner klassische­n Gesten, die man oft bei ihm sieht. Sie drückt Scham aus oder den Wunsch, kurz für sich zu sein. Einmal steckt er ein Taschentuc­h in die Brusttasch­e des Bademantel­s und flirtet mit

der Frau, die sich um den Job als Betreuerin bewirbt. Im nächsten Moment ekelt er sie mit einer Eiseskälte hinaus, die einem die Härchen auf den Unterarmen aufstellt. Und dann ist er so zerstört und schutzlos wie nur jemand sein kann, der seine Identität zu verlieren droht: „Wer bin ich?“, wispert er.

Bei den Oscars hatte monatelang Chadwick Boseman als sicherer Sieger ausgesehen. Der Schauspiel­er hatte kurz vor seinem frühen Krebstod eine beeindruck­ende Vorstellun­g in „Ma Rainey's Black Bottom“gegeben. In seiner Kategorie wurde der Preis bei der Gala im April denn auch als letztes vergeben. Man wollte offenbar den emotionale­n Höhepunkt an den Schluss setzen. Völlig überrasche­nd wurde dann aber der abwesende Anthony Hopkins als bester Hauptdarst­eller gekürt.

Es ist eine verdiente Ehrung. Besonders stark sind in „The Father“jene Szenen, in denen Hopkins alleine zu sehen ist. Man merkt seinem Anthony die Erschöpfun­g an, man spürt, wie viel Kraft es kostet, für die Angehörige­n so zu tun, als sei man der Alte. Und wie bitter es sein muss, nicht zu wissen, ob man tatsächlic­h man selbst ist. Im Interview mit der „New York Times“verriet Hopkins, er habe den Dreh immer wieder unterbrech­en müssen, weil ihm schlagarti­g bewusst geworden sei, wie endlich auch sein eigenes Leben sei. Es ist genau diese Erkenntnis, die „The Father“zu einem aufwühlend­en Film macht.

Hopkins spielt etwas, das man kaum spielen kann: einen Mann, der verschwind­et

 ?? FOTO: SEAN GLEASON/TOBIS FILM/DPA ?? Olivia Colman spielt Anthonys Tochter Anne. Anthony Hopkins brilliert als demenzkran­ker Vater.
FOTO: SEAN GLEASON/TOBIS FILM/DPA Olivia Colman spielt Anthonys Tochter Anne. Anthony Hopkins brilliert als demenzkran­ker Vater.

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