Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Milchshake-krise
Weil billige Eu-arbeitskräfte fehlen, müssen die Briten auf viele Produkte verzichten.
LONDONDER Sainsbury's-supermarkt im Nord-londoner Stadtbezirk Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszeit: In den Regalen klaffen Lücken allerorten. Egal, ob gekühlte Fertiggerichte oder haltbare Nudeln – überall ist die bunte Vielfalt der Konsumenten eingeschränkt. Die Fastfood-kette Nando's sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen. Diese Woche machte dann Mcdonald's Schlagzeilen: Wegen „vorübergehender Lieferprobleme“muss die Kundschaft auf die beliebten Milchshakes verzichten.
Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten. Sogar Eu-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigsten Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe, die andauern könnten.
Befürchtet wird, dass es zur Schlacht um die wichtigste Zutat zum traditionellen englischen Weihnachtsessen kommen könnte: Wenn die Branche weiterhin so eklatanten Personalmangel erleide, könnten bis Dezember ein Fünftel der jährlich verzehrten Truthähne fehlen, warnt der GeflügelzüchterVerband BPC in einem Brandbrief an Innenministerin Priti Patel. Das für Einwanderung zuständige Ministerium hat nämlich gering Qualifizierte zu unerwünschten Personen erklärt. Gerade diese aber seien „für die Aufrechterhaltung der Ernährung im Land ungemein wichtig“, erläutern die Züchter.
Truthähne mögen nicht gerade als Grundnahrungsmittel gelten, doch die Klage der Branche ist kein Einzelfall. Verbrauchermärkte, die Bauindustrie, Obst- und Gemüsebauern, die Gastronomie – überall fehlen seit dem Eu-austritt günstige Arbeitskräfte: der polnische Klempner und die rumänische Altenpflegerin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht.
Das neue Einwanderungssystem setzt dem Zuzug billiger Arbeitskräfte enge Grenzen. Von einzelnen Kontingenten für Branchen wie die Landwirtschaft abgesehen, müssen Antragsteller bestehende Arbeitsangebote mit Mindesteinkommen vorweisen. Lobbyverbände der Nahrungsmittel- und Gaststättenindustrie möchten stattdessen gerade jüngere Leute mit zeitlich begrenzten Visa anlocken.
Hingegen hoffen die Gewerkschaften auf höhere Einkommen für einheimische Arbeitskräfte. Tatsächlich bezahlen Warenhäuser vielerorts schon jetzt Begrüßungsgelder für neue Arbeitskräfte. Auch erfahrenen Lastwagenfahrern werden vierstellige Einstellungszahlungen geboten. Denn bei den Brummis macht sich der Mangel am eklatantesten bemerkbar. Seit sich das Großbritannien-geschäft für viele qualifizierte Eu-kraftfahrer nicht mehr lohnt, fehlt ein Sechstel der rund 600.000 Menschen, die laut Branchenverband RHA für den Warentransport notwendig sind. Und damit auch die Waren.