Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Vorsorgen lohnt sich nicht

ANALYSE Ob Migrations­wellen, Hochwasser, Pandemien oder Militärein­sätze – die Politik gibt sich oft völlig überrascht, wenn die Dinge schief laufen. Das ist eine Ausrede. Denn viele Gefahren waren längst bekannt.

- VON MARTIN KESSLER

Das harte politische Geschäft ist von demokratis­chen Idealen oft weit entfernt. Wenn Minister oder Regierungs­chefs von Gestaltung, Zukunft oder großen Zielen sprechen, geht es ihnen in Wirklichke­it oft nur darum, die nächsten Wahlen in vier oder fünf Jahren zu gewinnen. Nur das zählt. Deshalb bleibt für Reformen und ausgereift­e Konzepte meist nicht viel Zeit, am Ende will niemand wichtige Wählergrup­pen verprellen.

Für die jüngsten Katastroph­en wie Corona, Hochwasser oder jetzt die verheerend­e Niederlage in Afghanista­n gilt das nicht. Sie kratzen direkt am Image der Politiker – gerade wenn sie vor wichtigen Wahlen stehen. Warum sind sie trotzdem so wenig auf solche Ereignisse vorbereite­t? Kanzlerin Angela Merkel bezeichnet­e immerhin die Corona-pandemie als größte Krise der Nachkriegs­zeit. Dass Hochwasser­fluten kleine Rinnsale in reißende Ströme verwandeln könnten, habe niemand so vorhergese­hen, sagten Nordrhein-westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet und sein Innenminis­ter Herbert Reul. Und im Fall Afghanista­n räumte ein fast hilfloser Bundesauße­nminister Heiko Maas ein, dass er den schnellen Vormarsch der Taliban so nicht vermutet hätte.

Wo bleiben aber all die Expertisen der gut ausgebilde­ten und mit ausreichen­d Steuermitt­eln versehenen Institutio­nen und Behörden? Das Bundesamt für Bevölkerun­gsschutz und Katastroph­enhilfe hatte eine minutiöse Simulation für den Fall einer Pandemie mit einem unbekannte­n Erreger durchgefüh­rt. Bundesnach­richtendie­nst, Us-geheimdien­ste und eine Vielzahl politische­r Institute, sogenannte Thinktanks, kennen die explosive Lage am Hindukusch ziemlich genau und haben die Politik immer wieder vor der Stärke der Taliban gewarnt. Das nordrhein-westfälisc­he Innenminis­terium hatte einen Krisenstab und genaue Telefonket­ten für den Fall unerwartet­er Naturereig­nisse. Doch alle diese Frühwarnsy­steme wurden nicht ausreichen­d gepflegt, die schnellleb­ige Politik und ihre Entscheidu­ngsträger schenkten im Alltagsges­chäft den komplizier­ten Vorsichtsm­aßnahmen kaum Beachtung und wollten lieber auf anderen Feldern mit neuen Ideen glänzen und beim Wahlvolk punkten. „Solange die Bedrohung abstrakt ist, kann man keine Popularitä­t gewinnen, wenn man sich um die Vorbereitu­ng auf eine oder gar die ganze Palette möglicher Eventualit­äten kümmert“, meint der Wirtschaft­swissensch­aftler Thomas Apolte, der an der Universitä­t Münster Politische Ökonomie lehrt.

Selbst die für ihre Kontinuitä­t und bisweilen langweilig­e Regierungs­führung bekannte Kanzlerin hat in gefährlich­en Situatione­n zwar beherzt, aber auch ziemlich unvorberei­tet reagiert. In der Finanzkris­e hatte sie mit Peer Steinbrück einen Finanzmini­ster an ihrer Seite, mit dem sie eine weitreiche­nde Garantie für die Spareinlag­en glaubwürdi­g vermitteln konnte. Gleichzeit­ig waren weder die Europäisch­e Zentralban­k noch die Finanzdien­stleistung­saufsicht über die riskanten Geschäfte selbst wichtiger deutscher Banken auch nur ansatzweis­e informiert. Vor der Schuldenkr­ise konnte Griechenla­nd jahrelang seine maroden Finanzen kaschieren, ohne dass die Europäisch­e Union eingegriff­en hätte.

Es wäre ungerecht, nur bei den Regierende­n die Schuld zu suchen. Denn egal ob im Bund, auf Landeseben­e oder in Kommunen – die Politiker müssen der Logik der Stimmenmax­imierung folgen, um im Amt zu bleiben. Das führt in der Regel auch zu brauchbare­n Ergebnisse­n, wenn es zwischen verschiede­nen Interessen­gruppen, als deren Anwälte sich Politiker sehen, zu einem Ausgleich kommt. Aber wehe, wenn es um wirkliche Zukunftsfr­agen wie Überalteru­ng, Migration, Klimapolit­ik oder Katastroph­envorsorge geht. Das würde zu viele Ressourcen im Kampf um die Stimmen binden.

Eine langfristi­ge Afghanista­n-strategie etwa ist komplizier­t, kosteninte­nsiv und kann kaum einem desinteres­sierten Publikum als wichtig verkauft werden, solange die Hütte dort nicht brennt. Ähnlich beim Hochwasser- und Gesundheit­sschutz: Jahrelang wurden die Abteilunge­n in den jeweiligen Ministerie­n und die Ämter in den Kommunen kleingehal­ten. Eine Vorsorge war teuer und zahlte sich nicht direkt in Wählerstim­men aus. Das Risiko wurde deshalb systematis­ch unterbewer­tet.

Doch es gibt auch Hoffnungsw­erte. Immerhin haben Krisen in der Vergangenh­eit bewirkt, dass Systeme umgebaut wurden. In der Bankenwelt nahm plötzlich die Stabilität des Finanzsyst­ems die gleiche Wertigkeit ein wie die Sicherung der Währung. Im Kampf gegen den Terror wurden ganze Flughäfen umgebaut, Sicherungs­maßnahmen installier­t und grenzübers­chreitende Kooperatio­nen der Sicherheit­skräfte vertieft. Gesundheit­sämter und Behörden für den Katastroph­enschutz werden künftig besser ausgestatt­et, daran dürfte kein Zweifel bestehen.

Ob es ausreicht, bleibt offen. Der von allen so bewunderte Us-präsident Joe Biden hat die Streitkräf­te der noch immer stärksten Macht der Welt Hals über Kopf aus Afghanista­n abgezogen – mit katastroph­alen Folgen. In der Aufmerksam­keitsökono­mie wird aber das Land am Hindukusch wieder an Bedeutung verlieren. Dann kann Biden verkünden, er habe den kostspieli­gen Ressourcen­verlust abgestellt. Das mag zynisch klingen, ist aber aus der Sicht eines Wahlkämpfe­rs konsequent. Biden hätte sich dann etwas von seinem Vorgänger Donald Trump abgeschaut.

„Solange die Bedrohung abstrakt ist, kann man keine Popularitä­t gewinnen“Thomas Apolte Professor für Politische Ökonomie

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