Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Vorsorgen lohnt sich nicht
ANALYSE Ob Migrationswellen, Hochwasser, Pandemien oder Militäreinsätze – die Politik gibt sich oft völlig überrascht, wenn die Dinge schief laufen. Das ist eine Ausrede. Denn viele Gefahren waren längst bekannt.
Das harte politische Geschäft ist von demokratischen Idealen oft weit entfernt. Wenn Minister oder Regierungschefs von Gestaltung, Zukunft oder großen Zielen sprechen, geht es ihnen in Wirklichkeit oft nur darum, die nächsten Wahlen in vier oder fünf Jahren zu gewinnen. Nur das zählt. Deshalb bleibt für Reformen und ausgereifte Konzepte meist nicht viel Zeit, am Ende will niemand wichtige Wählergruppen verprellen.
Für die jüngsten Katastrophen wie Corona, Hochwasser oder jetzt die verheerende Niederlage in Afghanistan gilt das nicht. Sie kratzen direkt am Image der Politiker – gerade wenn sie vor wichtigen Wahlen stehen. Warum sind sie trotzdem so wenig auf solche Ereignisse vorbereitet? Kanzlerin Angela Merkel bezeichnete immerhin die Corona-pandemie als größte Krise der Nachkriegszeit. Dass Hochwasserfluten kleine Rinnsale in reißende Ströme verwandeln könnten, habe niemand so vorhergesehen, sagten Nordrhein-westfalens Ministerpräsident Armin Laschet und sein Innenminister Herbert Reul. Und im Fall Afghanistan räumte ein fast hilfloser Bundesaußenminister Heiko Maas ein, dass er den schnellen Vormarsch der Taliban so nicht vermutet hätte.
Wo bleiben aber all die Expertisen der gut ausgebildeten und mit ausreichend Steuermitteln versehenen Institutionen und Behörden? Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hatte eine minutiöse Simulation für den Fall einer Pandemie mit einem unbekannten Erreger durchgeführt. Bundesnachrichtendienst, Us-geheimdienste und eine Vielzahl politischer Institute, sogenannte Thinktanks, kennen die explosive Lage am Hindukusch ziemlich genau und haben die Politik immer wieder vor der Stärke der Taliban gewarnt. Das nordrhein-westfälische Innenministerium hatte einen Krisenstab und genaue Telefonketten für den Fall unerwarteter Naturereignisse. Doch alle diese Frühwarnsysteme wurden nicht ausreichend gepflegt, die schnelllebige Politik und ihre Entscheidungsträger schenkten im Alltagsgeschäft den komplizierten Vorsichtsmaßnahmen kaum Beachtung und wollten lieber auf anderen Feldern mit neuen Ideen glänzen und beim Wahlvolk punkten. „Solange die Bedrohung abstrakt ist, kann man keine Popularität gewinnen, wenn man sich um die Vorbereitung auf eine oder gar die ganze Palette möglicher Eventualitäten kümmert“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Apolte, der an der Universität Münster Politische Ökonomie lehrt.
Selbst die für ihre Kontinuität und bisweilen langweilige Regierungsführung bekannte Kanzlerin hat in gefährlichen Situationen zwar beherzt, aber auch ziemlich unvorbereitet reagiert. In der Finanzkrise hatte sie mit Peer Steinbrück einen Finanzminister an ihrer Seite, mit dem sie eine weitreichende Garantie für die Spareinlagen glaubwürdig vermitteln konnte. Gleichzeitig waren weder die Europäische Zentralbank noch die Finanzdienstleistungsaufsicht über die riskanten Geschäfte selbst wichtiger deutscher Banken auch nur ansatzweise informiert. Vor der Schuldenkrise konnte Griechenland jahrelang seine maroden Finanzen kaschieren, ohne dass die Europäische Union eingegriffen hätte.
Es wäre ungerecht, nur bei den Regierenden die Schuld zu suchen. Denn egal ob im Bund, auf Landesebene oder in Kommunen – die Politiker müssen der Logik der Stimmenmaximierung folgen, um im Amt zu bleiben. Das führt in der Regel auch zu brauchbaren Ergebnissen, wenn es zwischen verschiedenen Interessengruppen, als deren Anwälte sich Politiker sehen, zu einem Ausgleich kommt. Aber wehe, wenn es um wirkliche Zukunftsfragen wie Überalterung, Migration, Klimapolitik oder Katastrophenvorsorge geht. Das würde zu viele Ressourcen im Kampf um die Stimmen binden.
Eine langfristige Afghanistan-strategie etwa ist kompliziert, kostenintensiv und kann kaum einem desinteressierten Publikum als wichtig verkauft werden, solange die Hütte dort nicht brennt. Ähnlich beim Hochwasser- und Gesundheitsschutz: Jahrelang wurden die Abteilungen in den jeweiligen Ministerien und die Ämter in den Kommunen kleingehalten. Eine Vorsorge war teuer und zahlte sich nicht direkt in Wählerstimmen aus. Das Risiko wurde deshalb systematisch unterbewertet.
Doch es gibt auch Hoffnungswerte. Immerhin haben Krisen in der Vergangenheit bewirkt, dass Systeme umgebaut wurden. In der Bankenwelt nahm plötzlich die Stabilität des Finanzsystems die gleiche Wertigkeit ein wie die Sicherung der Währung. Im Kampf gegen den Terror wurden ganze Flughäfen umgebaut, Sicherungsmaßnahmen installiert und grenzüberschreitende Kooperationen der Sicherheitskräfte vertieft. Gesundheitsämter und Behörden für den Katastrophenschutz werden künftig besser ausgestattet, daran dürfte kein Zweifel bestehen.
Ob es ausreicht, bleibt offen. Der von allen so bewunderte Us-präsident Joe Biden hat die Streitkräfte der noch immer stärksten Macht der Welt Hals über Kopf aus Afghanistan abgezogen – mit katastrophalen Folgen. In der Aufmerksamkeitsökonomie wird aber das Land am Hindukusch wieder an Bedeutung verlieren. Dann kann Biden verkünden, er habe den kostspieligen Ressourcenverlust abgestellt. Das mag zynisch klingen, ist aber aus der Sicht eines Wahlkämpfers konsequent. Biden hätte sich dann etwas von seinem Vorgänger Donald Trump abgeschaut.
„Solange die Bedrohung abstrakt ist, kann man keine Popularität gewinnen“Thomas Apolte Professor für Politische Ökonomie