Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

WISSENSDRA­NG Hegel hat es längst gewusst

Mit dem preußische­n Philosophe­n auf das Heute zu blicken, ist erhellend.

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Mitten im blutigen Chaos des Abzugs aus Afghanista­n feierte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel im stillen Grab seinen 251. Geburtstag. Sein Geist, der die Weltgeschi­chte vernünftig kommentier­t, wusste es schon vorher: Das Projekt, das in der guten Absicht der Weltverbes­serung begonnen wurde, konnte nur schiefgehe­n. Wie es die Welt verändern wird, kann aber auch Hegels Geist noch nicht abschließe­nd beurteilen. Sorry.

Hegels dialektisc­he Geschichts­philosophi­e geht von einer Einsicht der alten Griechen aus: dass es unter den Menschen nichts rein Böses oder rein Gutes gibt, sondern stets eine Mischung. Daher ist das Resultat des Handelns auch nicht vorhersehb­ar – sicher ist nur, dass es nicht das ist, was man wollte. Das erklärten sich die Griechen nicht nur mit der Missgunst der Götter. Das Hauptprobl­em war die menschlich­e Hybris: eine Selbstüber­schätzung, die einer fatalen Mischung aus Tugendhaft­igkeit und Erfolg entspringt und im Desaster endet. Je höher das moralische Selbstwert­gefühl und je besser das Gewissen, desto mehr sinkt die Bereitscha­ft, auf warnende Stimmen zu hören. Ein anderer Mechanismu­s entspringt den vermeintli­chen Sachzwänge­n, die Menschen dazu bringen, ihren Überzeugun­gen entgegenge­setzt zu handeln, mitunter ohne es zu merken. Hegel hat das besonders an der Französisc­hen Revolution fasziniert. Sie verwandelt­e bekanntlic­h den gegen die Todesstraf­e engagierte­n liberalen Rechtsanwa­lt Robespierr­e in eine Triebfeder des Terrors. Erst fiel ihm der Adel, dann seine Mitstreite­r und schließlic­h er selbst zum Opfer. Neben der tragischen Variante Afghanista­n entwickeln sich immer mehr komödianti­sche Varianten dieser Dialektik. Der Bewegung für weibliche Gleichbere­chtigung entspringt eine Politik der rigiden Steuerung von Sprache, die das Schreiben für Männer wie Frauen zur Qual macht. Aus der antirassis­tischen Bewegung und der Kritik am Sexismus entwickelt sich das moralische Gebot, „alte weiße Männer“zu verachten. Hegel findet das lustig.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-professori­n an der Ruhr-universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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MARIA-SIBYLLA LOTTER

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