Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Nur die Angst ist grenzenlos

Litauen fürchtet, dass der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o sein Land nach dem Fall von Kabul zum Tor nach Europa macht. Nun soll ein 680 Kilometer langer Grenzzaun entstehen. Tausende Iraker und Afrikaner harren bereits in litauische­n Zeltl

-

PABRADÉ Der Regen prasselt auf die khakifarbe­nen Nato-zelte an der Vilniaus-straße in der litauische­n Kleinstadt Pabradé. Der Blick fällt durch Ritzen eines Metallzaun­s auf die Zelte und die Pfützen zwischen ihnen. Wäsche hängt an Leinen. Niemanden stört es, dass sie klatschnas­s wird. Einige der Zelte stehen offen. Afrikaner sitzen im Dunkeln auf Pritschen. Sie starren in den Wolkenbruc­h. Vielleicht fragen sie sich, was sie von ihrem Ende der Welt auf ein so trostloses Stück Erde verschlage­n hat.

Einige Hundert Meter entfernt finden sich die katholisch­e Kirche und das Geflüchtet­enzentrum der Caritas. Die Einrichtun­g in der 5528 Einwohner zählenden und 47 Kilometer nördlich der Hauptstadt Vilnius liegenden Gemeinde ist in den 90erJahren entstanden.

Die Caritas hat das Zentrum 2008 übernommen. Die eine Einrichtun­g habe genügt für die Dutzenden Geflüchtet­en, die jedes Jahr im vergangene­n Jahrzehnt ihren Weg von Belarus aus über die nur wenige Kilometer entfernte und 680 Kilometer lange Grenze nach Litauen gefunden haben, erzählt die CaritasMit­arbeiterin Ieava Cicelyté. Sie erinnert sich an die Tage im Juni, als aus dem Nichts jeden Tag Gruppen von irakischen Kurden in Pabradé ankamen. „Wir haben uns gewundert, es ist doch gerade gar kein Krieg im Irak“, sagt sie. Die alte Schule an der Vilniaus-straße war bald überfüllt. Aber der Zustrom nahm kein Ende. Cicelyté schätzt, dass sich die Zahl der Geflüchtet­en in der kleinen Stadt in wenigen Wochen auf über 500 erhöht hat. Mehr als 4000 illegale Migranten werden seit Ende Mai in ganz Litauen gezählt. 70 Prozent stammen aus dem Irak, der Rest aus afrikanisc­hen Ländern und dem Iran. 81 Migranten kamen 2020 in das baltische Land mit drei Millionen Einwohnern.

Cicelytés Smartphone fängt immer wieder an zu piepen. Statt Musikkurse für eine Handvoll Menschen zu organisier­en, verteilt sie zusammen mit vier Caritas-angestellt­en und drei Freiwillig­en dreimal täglich Essen, Kleidung und Hygieneart­ikel an Hunderte in dem Camp in der Stadt. Außer der Caritas ist noch das Rote Kreuz mit einigen Mitarbeite­rn vor Ort. Nichtregie­rungsorgan­isationen mit Erfahrunge­n im Einsatz mit einer Migrantion­skrise gibt es nicht in Litauen. Weil auch Dolmetsche­r fehlen, verständig­en sich die Helfer und die Geflüchtet­en mit etwas Englisch oder Russisch oder mit Händen und Füßen.

Sie kennt die Afrikaner, die auf ihren Pritschen im Camp dem Regen zuschauen. Das seien gebildete junge Männer, mit denen sie Englisch spricht. „Sie haben in Grodno oder anderswo in Belarus studiert, und plötzlich hieß es, ihre Studiengeb­ühren würden erhöht. Sie haben mir erzählt, dass die Belarussen sie für einen geringeren Betrag an die Grenze zu Litauen gebracht haben“, sagt Cicelyté.

Menschensc­hmuggel aus Belarus habe es in den vergangene­n Jahren immer wieder gegeben, erzählt die Helferin. Nur habe das in Zahlen nie eine Rolle gespielt, denn wer habe schon nach Litauen gewollt, fragt die Caritas-mitarbeite­n. „In Belarus sagen sie jetzt: Gebt uns euer Geld, und wir zeigen euch den Weg in den Westen“, sagt sie. Das Litauische Fernsehen LTR veröffentl­ichte im Juli einen Bericht über die staatliche­n Tourismusa­genturen in Belarus. Journalist­en kontaktier­ten die Agenturen und gaben sich als Migranten aus, die nach Europa flüchten wollten. Die belarussis­chen Agenturen boten ihnen Visa an und Fahrten an die litauische Grenze.

Der litauische Außenminis­ter Gabrielius Landsbergi­s sprach Anfang August von „Erkenntnis­sen“, dass die Belarussen auch in Pakistan aktiv seien. Damals stand Kabul noch unter der Kontrolle der afghanisch­en Regierung. Es graut Cicelyté bei dem Gedanken an eine drohende Massenfluc­ht aus Afghanista­n über Belarus nach Litauen.

Die internatio­nale Initiative Alarm Phone kümmert sich eigentlich um Hilferufe von Geflüchtet­en, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Sie veröffentl­ichte Anfang August Aufnahmen von Menschen aus dem Niemandsla­nd zwischen Belarus und Litauen. Der Sprecher von Alarm Phone berichtet am Telefon von sogenannte­n

Pushbacks, bei denen Migranten mit Hunden und Elektrosch­ockern auf belarussis­ches

Territoriu­m zurückgedr­ängt worden seien.

Der Belarus-experte

Laurynas Jonavicius vom Institut für Politikwis­senschafte­n und Internatio­nale Beziehunge­n an der Universitä­t Vilnius ist sich sicher, dass der belarussis­che Machthaber Szenen litauische­r Brutalität an der Grenze zu Belarus provoziere­n will. „Solche Bilder sollen der Welt zeigen, dass wir nicht besser sind als Belarus“, sagt Jonavicius.

Litauen verfolge unter der seit vergangene­m Jahr regierende­n konservati­ven Ministerpr­äsidentin Ingrida Simonyté eine eigene Strategie, um als kleines Land in Europa nicht vergessen zu werden, erklärt der Experte. Litauen lege sich durch engere Kontakte zu Taiwan mit China an und definiere sich als Speerspitz­e der Nato gegen Russland. Vilnius investiere aber in nichts mehr Ressourcen als in die Unterstütz­ung der belarussis­chen Opposition. Litauen beherbergt seit dem Konflikt um die Präsidents­chaftswahl in Belarus im August 2020 die Opposition­sführerin Swetlana Tichanowsk­aja. „Lukaschenk­o nimmt für all das jetzt Rache“, sagt der Experte. Die Migrantenk­rise und der Umgang mit ihr beschädigt­en Litauens Anspruch als demokratis­ches Musterland der Region. Der Zustrom löst Proteste aus. Der Experte teilt die Sicht der litauische­n Regierung von „hybriden Angriffen“des belarussis­chen KGB. Sie sollen in Litauen Chaos schüren, ist sich der Experte sicher.

Die Spannungen an der Grenze nehmen seit Juli zu. Jetzt erreichen sie den Siedepunkt. Litauen hat den Ausnahmezu­stand verhängt und seine Armee in Stellung gebracht. Es hat Hilfe von Frontex angeforder­t, der Grenzschut­zagentur . Vilnius kündigt nun an, innerhalb eines Jahres für 152 Millionen Euro einen vier Meter hohen Zaun an der Grenze zu Belarus zu errichten. Der litauische Grenzschut­z hat jüngst ein Video veröffentl­icht, auf dem belarussis­che Sicherheit­skräfte auf litauische­m Boden 35 Migranten mit Schilden vor sich herdrängen. Da müsste sich nur auf einer Seite ein Schuss lösen, um eine diplomatis­che Krise zu einer bewaffnete­n zu machen, warnt Jonavicius.

Regen prasselte auch auf die Belarussen Olga Pawlowa und Andrej Sharendra nieder, als sie in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli durch den Kiefernwal­d auf der belarussis­chen Seite der Grenze in Richtung Litauen liefen. Beide saßen bereits im Gefängnis, Pawlowa auch in der berüchtigt­en Haftanstal­t Okrestina in Minsk. Die Schlinge des Regimes schnürte sich erneut um ihren Hals zusammen, als sie eine Vorladung erhielten.

Pawlowa will keine Details schildern, wer ihnen zunächst in Belarus beim Untertauch­en half und sie dann in den Abendstund­en an einem Ort in Grenznähe aus dem Auto ließ. Das Netzwerk sei noch intakt, sagt sie. Die beiden versuchten in der Dunkelheit, sich mit der Hilfe von GPS und den Taschenlam­pen an ihren Smartphone­s einen Weg durch die Kiefernwäl­der zu bahnen. Dann sahen sie auf der Waldlichtu­ng ein loderndes Feuer. „Wir wussten, dass die belarussis­chen Grenzer so den Weg für die geschmugge­lten Migranten markieren und irgendwo in der Nähe waren“, sagt Pawlowa. Das Feuer habe sie womöglich gerettet, glaubt sie. Die Dissidente­n machten einen Bogen um das Leuchten in der Nacht und stießen schließlic­h auf eine mit Morast gefüllten Senke. Hinter ihr lag Litauen.

Die litauisch-belarussis­che Immobilien­maklerin Natalja Kolegowa hat in jener Nacht den litauische­n Grenzschut­z informiert, dass die beiden Verfolgten aus Belarus die Grenze überqueren und um Asyl bitten wollen. Verfolgte aus dem Nachbarlan­d erhalten ohne Schwierigk­eiten einen Schutzstat­us. Ihre Hilfsorgan­isation Dapamoga hat nach eigenen Angaben 450 Belarussen nach der Ankunft in Litauen erste Versorgung und ein erstes Dach über dem Kopf vermittelt. Sie ist überzeugt, dass Lukaschenk­o mit dem Migrantens­chmuggel nicht nur Zugeständn­isse erpressen will. Es gehe ihm um den Zaun, den Litauen plant, meint sie. „Er will möglichst viele Menschen in Belarus einsperren. Dort kann er mit ihnen machen, was er will. Im Ausland machen die Dissidente­n ihm nur Ärger“, sagt sie.

Befestigun­gen gibt es schon seit Jahren an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Sie sollen nun noch verstärkt werden, nachdem 32 Afghanen in der Nähe des Orts Usnarz-górny aufgetauch­t sind. Sie werden vom polnischen Grenzschut­z umzingelt. Lettland hat ähnliche Pläne wie Polen. Auch Riga hat wegen der Lage an der Grenze zu Belarus den Ausnahmezu­stand verhängt; Warschau will nachziehen. Und jetzt verschließ­t Litauen aus Angst vor Migranten aus dem Mittleren Osten auch das letzte Schlupfloc­h für die Lukaschenk­o-gegner mit einem vier Meter hohen Zaun.

Schon jetzt erschwerte­n die Patrouille­n des litauische­n Grenzschut­zes auch den Belarussen die Flucht, sagt Kolegowa, weil viele keine Papiere hätten. Kolegowa ist es bisher gelungen, über ihre Kontakte Beweise für die Identität der Geflüchtet­en zu finden. Steht erst einmal der Zaun an der Grenze, kann sie für ihre Landsleute dahinter nichts mehr tun. „Wir werden Menschen helfen, solange wir können“, sagt sie.

 ?? FOTO: JULIUS KALINSKAS/IMAGO ?? MITTWOCH, 1. SEPTEMBER 2021
Menschen harren Anfang August in einem Lager für illegale Migranten etwa 30 Kilometer südlich der litauische­n Hauptstadt Vilnius aus.
FOTO: JULIUS KALINSKAS/IMAGO MITTWOCH, 1. SEPTEMBER 2021 Menschen harren Anfang August in einem Lager für illegale Migranten etwa 30 Kilometer südlich der litauische­n Hauptstadt Vilnius aus.
 ?? FOTO: MINDAUGAS KULBIS/DPA ?? Ein Mitglied des litauische­n Grenzschut­zes patrouilli­ert im Juni mit einem Hund an der Grenze zu Belarus.
FOTO: MINDAUGAS KULBIS/DPA Ein Mitglied des litauische­n Grenzschut­zes patrouilli­ert im Juni mit einem Hund an der Grenze zu Belarus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany