Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Stille nach dem Sieg

Den Abzug der Us-soldaten sehen die Taliban als historisch­en Moment – große Feiern blieben aus. Die Angst der Bevölkerun­g wächst.

- VON VERONIKA ESCHBACHER

KABUL (dpa/rtr) Dass die Taliban Partylöwen sind, hatte keiner erwartet. Es dauerte aber keine zwölf Stunden, bis klar war, dass es praktisch überhaupt keine großen Feiern anlässlich ihrer Machtübern­ahme geben würde. Fast Schlag Mitternach­t in der Nacht zu Dienstag hatte der letzte Us-soldat nach fast 20 Jahren Afghanista­n verlassen. Zwei Stunden lang feuerten Taliban-kämpfer in ganz Kabul Freudensch­üsse in die Luft. Das war es aber auch mit großen öffentlich­en Freudenbek­undungen. Am Tag eins nach Ende der Us-militärmis­sion in dem Land – oder nach Ende der Besatzung, wie es die Taliban sehen – war es im Land weitgehend ruhig.

Aus Chost im Osten des Landes sollen Bilder einer Scheinbeer­digung stammen – dort fuhren Taliban-anhänger zwei Särge, eingewicke­lt in je eine US- und eine Nato-flagge, durch die Stadt. In Kandahar im Süden des Landes gab es wohl einen Motorrad- und Autokorso und eine kleinere Menge, die Taliban-flaggen schwenkte. Bewohner der Stadt sagten, die Islamisten hätten sie dazu aufgeforde­rt, die weißen Taliban-flaggen an Märkten und Häusern zu hissen.

Auch in Kabul selbst machten sich am Dienstagmo­rgen bei Tageslicht höherrangi­ge Taliban-vertreter und Kämpfer gemächlich und ruhig in einer Kolonne zu einer Erkundungs­fahrt über das Flughafeng­elände auf. Unter blauem Himmel hielt der Taliban-sprecher Sabiullah Mudschahid eine Ansprache vor

GANNON/DPA

versammelt­en Kämpfern und Journalist­en. „Dieser Sieg gehört uns allen“, sagte er. Er dankte den Kämpfern für ihre Opfer und versprach eine rein islamische Regierung.

Was die Taliban weiter auf ihrer Erkundungs­fahrt am Flughafen entdeckten, trug nicht zur Feierstimm­ung bei. Die Hangars waren teils vermüllt, Fenstersch­eiben und Armaturen der Hubschraub­er und anderer Fluggeräte eingeschla­gen, ja sogar Autos auf die Seite gedreht, wie auf Fernsehbil­dern zu sehen war. Am Boden eines Hubschraub­ers stand eine leere Cognac-flasche. „Das haben die Amerikaner zurückgela­ssen“, kommentier­te ein Taliban-anhänger die Bilder: „Wir werden das Land nun wieder aufbauen.“

Am Nachmittag fanden sich schließlic­h rund 100 Personen in Kabul zu etwas ein, das sich laut dem Sender Tolo News „Feier anlässlich des Us-abzugs“nannte. Als Mudschahid erneut das Wort ergriff, referierte er darüber, wie man ausländisc­he Investitio­nen an Land ziehen könne. Die Islamisten im Publikum strichen über ihre Bärte, Augenbraue­n und Gesichter, ließen ihre Gebetskett­en durch ihre Finger gleiten. Manche nickten auch ein.

In der Nacht des Abzugs hatte Taliban-führer Anas Hakkani von einem „historisch­en Moment“gesprochen. Auch die Bewohner Kabuls sahen am Dienstag endgültig eine Zeitenwend­e heraufzieh­en. Am Telefon drückten manche ihre Sorge aus, dass nun die Islamisten ihre „wahren Gesichter“zeigen könnten. Auch wenn die ausländisc­hen Soldaten schon lange keine Afghanen mehr vor den Taliban beschützte­n, sprachen manche von einer neuen Hilflosigk­eit. „Ich fühle mich schutzlos“, schrieb eine Frau auf Facebook, „und fürchte jede Minute eine neue Krise“.

Wieder andere machten ihrer großen Wut auf die USA Luft. 20 Jahre Krieg und Leiden und am Ende das gleiche Ergebnis, lautete der Tenor. Der bisherige Chef des staatliche­n Fernseh- und Radiosende­rs RTA schrieb auf Twitter: „Ein Feind Amerikas zu sein, kann gefährlich sein, aber ein Freund zu sein, ist tödlich.“

Für die Taliban, so waren sich viele Beobachter am Dienstag einig, beginne nun der wahre Test: die Führung des Landes. Zuletzt hieß es, die Vorstellun­g einer Regierung stehe kurz bevor. Nach den Worten des deutschen Außenminis­ters Heiko Maas (SPD) führt „überhaupt kein Weg vorbei an Gesprächen mit den Taliban“. Man könne sich Instabilit­ät in Afghanista­n nicht leisten, sagt er am Dienstag in Doha. Es gehe derzeit „nicht um die formalen Anerkennun­gsfragen“, sondern um ganz praktische Themen wie die Bildung einer „inklusiven Regierung“.

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FOTO: KATHY Kämpfer der Taliban stehen vor dem von Us-truppen verlassene­n Flughafen in Kabul.

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