Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Stille nach dem Sieg
Den Abzug der Us-soldaten sehen die Taliban als historischen Moment – große Feiern blieben aus. Die Angst der Bevölkerung wächst.
KABUL (dpa/rtr) Dass die Taliban Partylöwen sind, hatte keiner erwartet. Es dauerte aber keine zwölf Stunden, bis klar war, dass es praktisch überhaupt keine großen Feiern anlässlich ihrer Machtübernahme geben würde. Fast Schlag Mitternacht in der Nacht zu Dienstag hatte der letzte Us-soldat nach fast 20 Jahren Afghanistan verlassen. Zwei Stunden lang feuerten Taliban-kämpfer in ganz Kabul Freudenschüsse in die Luft. Das war es aber auch mit großen öffentlichen Freudenbekundungen. Am Tag eins nach Ende der Us-militärmission in dem Land – oder nach Ende der Besatzung, wie es die Taliban sehen – war es im Land weitgehend ruhig.
Aus Chost im Osten des Landes sollen Bilder einer Scheinbeerdigung stammen – dort fuhren Taliban-anhänger zwei Särge, eingewickelt in je eine US- und eine Nato-flagge, durch die Stadt. In Kandahar im Süden des Landes gab es wohl einen Motorrad- und Autokorso und eine kleinere Menge, die Taliban-flaggen schwenkte. Bewohner der Stadt sagten, die Islamisten hätten sie dazu aufgefordert, die weißen Taliban-flaggen an Märkten und Häusern zu hissen.
Auch in Kabul selbst machten sich am Dienstagmorgen bei Tageslicht höherrangige Taliban-vertreter und Kämpfer gemächlich und ruhig in einer Kolonne zu einer Erkundungsfahrt über das Flughafengelände auf. Unter blauem Himmel hielt der Taliban-sprecher Sabiullah Mudschahid eine Ansprache vor
GANNON/DPA
versammelten Kämpfern und Journalisten. „Dieser Sieg gehört uns allen“, sagte er. Er dankte den Kämpfern für ihre Opfer und versprach eine rein islamische Regierung.
Was die Taliban weiter auf ihrer Erkundungsfahrt am Flughafen entdeckten, trug nicht zur Feierstimmung bei. Die Hangars waren teils vermüllt, Fensterscheiben und Armaturen der Hubschrauber und anderer Fluggeräte eingeschlagen, ja sogar Autos auf die Seite gedreht, wie auf Fernsehbildern zu sehen war. Am Boden eines Hubschraubers stand eine leere Cognac-flasche. „Das haben die Amerikaner zurückgelassen“, kommentierte ein Taliban-anhänger die Bilder: „Wir werden das Land nun wieder aufbauen.“
Am Nachmittag fanden sich schließlich rund 100 Personen in Kabul zu etwas ein, das sich laut dem Sender Tolo News „Feier anlässlich des Us-abzugs“nannte. Als Mudschahid erneut das Wort ergriff, referierte er darüber, wie man ausländische Investitionen an Land ziehen könne. Die Islamisten im Publikum strichen über ihre Bärte, Augenbrauen und Gesichter, ließen ihre Gebetsketten durch ihre Finger gleiten. Manche nickten auch ein.
In der Nacht des Abzugs hatte Taliban-führer Anas Hakkani von einem „historischen Moment“gesprochen. Auch die Bewohner Kabuls sahen am Dienstag endgültig eine Zeitenwende heraufziehen. Am Telefon drückten manche ihre Sorge aus, dass nun die Islamisten ihre „wahren Gesichter“zeigen könnten. Auch wenn die ausländischen Soldaten schon lange keine Afghanen mehr vor den Taliban beschützten, sprachen manche von einer neuen Hilflosigkeit. „Ich fühle mich schutzlos“, schrieb eine Frau auf Facebook, „und fürchte jede Minute eine neue Krise“.
Wieder andere machten ihrer großen Wut auf die USA Luft. 20 Jahre Krieg und Leiden und am Ende das gleiche Ergebnis, lautete der Tenor. Der bisherige Chef des staatlichen Fernseh- und Radiosenders RTA schrieb auf Twitter: „Ein Feind Amerikas zu sein, kann gefährlich sein, aber ein Freund zu sein, ist tödlich.“
Für die Taliban, so waren sich viele Beobachter am Dienstag einig, beginne nun der wahre Test: die Führung des Landes. Zuletzt hieß es, die Vorstellung einer Regierung stehe kurz bevor. Nach den Worten des deutschen Außenministers Heiko Maas (SPD) führt „überhaupt kein Weg vorbei an Gesprächen mit den Taliban“. Man könne sich Instabilität in Afghanistan nicht leisten, sagt er am Dienstag in Doha. Es gehe derzeit „nicht um die formalen Anerkennungsfragen“, sondern um ganz praktische Themen wie die Bildung einer „inklusiven Regierung“.