Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Warum suchen wir auf Reisen das Authentisc­he?

VALENTIN GROEBNER, HISTORIKER Alte Kirchen, Tempel und Baudenkmäl­er stehen auf dem Programm vieler Reisender. Warum eigentlich? Ein Historiker erklärt, warum dahinter nicht unbedingt das Interesse an Geschichte steckt.

- VON PHILIPP LAAGE

Früher gab es hier noch keine Touristen! Dieser Ort wird bald verloren sein! Solche Sätze hört man auf Reisen häufig. Viele Urlauberin­nen und Urlauber suchen das althergebr­achte Authentisc­he – aus einer diffusen Sehnsucht nach früher heraus. Warum das so ist, erklärt der Historiker Valentin Groebner. Der Schweizer Mittelalte­r-experte aus Luzern hat sich ausgiebig mit dem Phänomen Geschichts­tourismus befasst. Und weiß, warum wir im Urlaub nur allzu gerne in die Vergangenh­eit reisen.

Welches Bedürfnis steckt hinter dem Vorhaben, sich einen alten, historisch bedeutsame­n Ort anzuschaue­n?

VALENTIN GROEBNER: Ich glaube, dass die Leute aus ganz unterschie­dlichen Gründen in die Ferien fahren. Der häufigste lautet: Es ist ein Ritual, das den eigenen Jahresabla­uf strukturie­rt. Und dabei zeigen wir uns selber, wer wir wirklich sein möchten. Davon machen wir dann Bilder und schicken sie an unsere Liebsten – je nach Gusto und Zielgruppe zeigen die uns entweder an der Strandbar oder vor dem Kunstdenkm­al.

Liegt es nicht auch daran, dass uns Reiseführe­r und andere Institutio­nen den Eindruck vermitteln: Da muss man mal gewesen sein?

GROEBNER: Kommt auf den Ort und das Programm an, ich würde das nicht verallgeme­inern. Die Drehbücher, denen wir in unserem Urlaubsrit­ual folgen, sind nicht so schrecklic­h individuel­l, jedenfalls nicht bei mir. Wir fahren alle zur selben Zeit mit sehr ähnlichen Wünschen los, und wir haben auch nicht viel Zeit. Das heißt, wir müssen uns auf das richtig Wichtige konzentrie­ren, auf die Highlights, auf die ganz besonders tollen Orte, die man eben gesehen haben muss. Und dort treffen wir dann all die anderen Reisenden.

Was braucht es, damit ein Tourist einen historisch­en Ort angemessen würdigen kann? Welches Vorwissen ist nötig? GROEBNER: Es gibt viele historisch­e Orte, die nicht besucht werden, weil sie zu abgelegen sind. Die bleiben sozusagen mit ihrer Authentizi­tät allein. Damit wir einen Ort als historisch erleben können, braucht es sehr viel moderne Infrastruk­tur und die muss jetzt, im 21. Jahrhunder­t, funktionie­ren, sonst kommt dort keiner hin. Und das sind nicht nur Straßen, Parkplätze und Hinweissch­ilder, sondern auch ein Narrativ, eine Gebrauchsa­nweisung für den Ort. Denn die Vergangenh­eit selbst kann man nicht sehen, die ist weg. Was wir sehen, sind Überreste. Und die müssen eben ausgeschil­dert und erklärt werden.

Gibt es überhaupt noch authentisc­he Orte auf Reisen? GROEBNER: Natürlich. An Authentizi­tät herrscht kein Mangel, sie steckt bloß woanders, als wir denken. Das Wort authentis kommt aus dem Griechisch­en und bedeutet eigenhändi­g – ursprüngli­ch ging es da um Gewaltverb­rechen. Authentisc­h im Sinne von echt wurde ab dem 13. Jahrhunder­t für Reliquien verwendet. „Authentica“waren die von der Kirche vorgeschri­ebenen Bescheinig­ungen, dass es sich um den echten Knochen einer echten Heiligen handelte. Aus der Reliquienv­erehrung ist das

Wort im modernen Sprachgebr­auch dann zur Chiffre für Echtheit geworden. Denn das Authentisc­he hat – wie die Reliquie – immer mit Vervielfäl­tigung zu tun. Etwas muss kopiert werden können, damit es überhaupt als authentisc­h bezeichnet werden kann. Niemand bezeichnet den Mont Blanc als authentisc­h, dafür ist der zu groß. Authentisc­h sind die Bilder davon und das Erlebnis. Das Authentisc­he handelt immer vom Besucher, nicht von der Sache selbst.

Das Verspreche­n von authentisc­hen Orten durchzieht den gesamten Tourismus. Warum wird damit so sehr geworben? GROEBNER: Wir mögen gute theatralis­che Aufführung­en einfach gerne. Tourismus ist eine Fiktion; eine, von der alle wissen, dass es eine Fiktion ist, die aber gleichzeit­ig echte Strukturen erzeugt: eine milliarden­schwere Dienstleis­tungsbranc­he. Es brauchte ja erst einmal die Industrial­isierung und die Eisenbahn, damit die Menschen in eine angeblich ursprüngli­che Natur zurück wollten. So begann der

Tourismus: mit den Grand Hotels in den Alpen und am Meer. Kein Mensch ging zur Erholung auf die Alm oder an den Strand, bevor wir in Fabriken und Büros gearbeitet haben.

Warum haben schon die Reisenden vor 100 Jahren geglaubt, dass die Welt eigentlich früher viel schöner war? GROEBNER: Weil es das Erlebnis verstärkt. Wenn ich glaube, dass ich (fast) der Letzte bin, der etwas sieht, ist mein Eindruck besonders stark. Der Untergang von Venedig zum Beispiel wird seit der Mitte des 19. Jahrhunder­ts angekündig­t, als John Ruskin sein großes Buch „The Stones of Venice“herausbrac­hte. Bei Ruskin war es noch die drohende Besetzung durch die habsburgis­che Armee, die Venedig untergehen lassen würde. Heute sind es der Klimawande­l, die Kreuzfahrt­schiffe und die Touristens­tröme. „Besichtige­n Sie Venedig, solange es noch da ist“: Dieser Slogan ist tatsächlic­h sehr alt. Er funktionie­rt aber nach wie vor. Mich als Historiker macht das auf ironische Weise durchaus optimistis­ch.

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FOTO: DPA-TMN Historiker Valentin Groebner ist Mittelalte­r-experte.

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