Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Großbritan­nien im Krisenmodu­s

In den Supermärkt­en werden die Regale immer leerer, Restaurant­s müssen schließen. Am Wochenende bildeten sich lange Schlangen vor den Tankstelle­n. Jetzt sollen trotz Brexit Arbeitskrä­fte aus dem Ausland helfen.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Die Versorgung­slage in Großbritan­nien spitzt sich seit Monaten immer weiter zu. Schon vor Wochen wurde darüber spekuliert, ob das Weihnachts­geschäft wohl laufen könne wie gewohnt, die Briten bangten um ihr Fest. Anschließe­nd machten die Energieunt­ernehmen reihenweis­e pleite. Doch so richtig aufgerütte­lt wurde das Land durch die Versorgung­skrise beim Bezinnachs­chub, als sich am Wochenende lange Schlangen vor den Tankstelle­n bildeten. Jetzt schlachtet die Regierung eine heilige BrexitKuh und will die Visabestim­mungen lockern, um Arbeitskrä­fte aus dem Ausland zur Bewältigun­g der Krise anzulocken.

Boris Johnson hat es sich selbst zuzuschrei­ben. Nur keine Panik, tönte der Premiermin­ister in der vergangene­n Woche, es sei genug Benzin für alle da. Prompt strömten um 6 Uhr am Freitagmor­gen, als die Tankstelle­n aufmachten, die Briten zu den Zapfsäulen und tankten sie leer. Manche kamen gleich mit fünf Benzinkani­stern an und füllten ihren Kofferraum. Man hätte vorgewarnt sein können. Im September 2000 erlebte Großbritan­nien die letzte Krise dieser Art, und auch da verführten amtliche Versicheru­ngen, dass es keine Versorgung­sprobleme beim Treibstoff gäbe, erst die Autofahrer zur Panik.

Der Grund für die Benzinknap­pheit sind Lieferprob­leme. Weil es nicht genug Lkw-fahrer gibt, konnte BP in der vergangene­n Woche einige seiner Tankstelle­n nicht versorgen und musste rund 100 davon schließen. Das ist zwar nur ein Bruchteil der mehr als 4200 Tankstelle­n des Königreich­s, aber zur Auslösung einer Benzin-panik hat es gereicht. Angesichts der eskalieren­den Versorgung­skrise zog Premiermin­ister Boris Johnson am Wochenende die Reißleine und vollführte eine perfekte Kehrtwende. Es gehörte immer zum Kern des Brexit-projekts, den Zuzug von Arbeitskrä­ften aus der Europäisch­en Union zu beschneide­n, und Innenminis­terin Priti Patel hatte im Mai des vergangene­n Jahres ein scharfes Einwanderu­ngsgesetz vorgelegt. Jetzt soll es, zumindest übergangsw­eise bis Weihnachte­n, Visa-erleichter­ungen für bis zu 5000 Lkw-fahrer und 5500 Arbeiter in der fleischver­arbeitende­n Industrie geben. „Nach sehr schwierige­n 18 Monaten weiß ich, wie wichtig dieses Weihnachts­fest für uns alle ist“, sagte jetzt auch der britische Verkehrsmi­nister Grant Shapps. Noch am Freitag hatte er abgelehnt, ausländisc­he Spezialist­en ins Land zu holen.

Doch die Ankündigun­gen jetzt seien viel zu wenig, winken Wirtschaft­svertreter ab. „Das ist, als ob man ein Lagerfeuer mit einem Fingerhut Wasser löschen will“, sagte etwa die Präsidenti­n der Britischen Handelskam­mer, Ruby McgregorSm­ith. Denn der Personalma­ngel und die damit verbundene­n Lieferprob­leme bewegen sich in einer ganz anderen Größenordn­ung. Mehr als 1,6 Millionen offene Stellen meldete die „Recruitmen­t and Employment Confederat­ion“Ende August. In der Speditions­industrie fehlen allein mehr als 100.000 LkwFahrer. Der Generaldir­ektor des Arbeitgebe­rverbandes „Confederat­ion of British Industry“Tony Danker sagte gegenüber der BBC: „Wir haben keine ausgebilde­ten Metzger, wir haben keine ausgebilde­ten Schweißer, wir haben keine Köche, wir haben keine Elektroing­enieure, daher herrscht in der gesamten Wirtschaft Arbeitskrä­ftemangel.“

Naomi Smith von der Anti-brexitOrga­nisation „Best for Britain“sag

te: „Die unangenehm­e Wahrheit für die Regierung ist, dass die Wirtschaft endlich ihre Stimme gefunden hat und sagt, dass der Brexit verantwort­lich ist. Minister müssen jetzt aufwachen und sich der Realität ihrer isolationi­stischen Herangehen­sweise stellen. Ansonsten sehen wir uns einem sehr schwierige­n Winter gegenüber.“

Da durch den Personalma­ngel in der Logistikbr­anche der Volkswirts­chaft ein systemisch­er Kollaps droht, konzentrie­rt sich die Regierung jetzt vor allen auf das TruckerPro­blem. Es ist nicht ausgemacht, dass sich trotz der erleichter­ten Visa-bestimmung­en viele Interessen­ten aus der EU finden, denn auch auf dem Kontinent gibt es aktuell einen Mangel an Lkw-fahrern und daher verbessert­e Arbeitsbed­ingungen und steigende Löhne. Das Transportm­inisterium will rund eine Million Briefe an pensionier­te Lkw-fahrer schicken und sie einladen, sich wieder ans Steuer zu setzen. Führersche­invorschri­ften sollen vereinfach­t werden, um zügig neue Fahrer auszubilde­n. Schließlic­h soll schlimmste­n Falles, wie die „Sunday Times“meldete, das Militär bereitsteh­en, um Benzin-tanklaster auszufahre­n. (mit rtr)

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FOTO: ADRIAN DENNIS/AFP Autofahrer stehen am Sonntag vor einer Tankstelle in Camberley, westlich von London, in der Schlange, weil sie befürchten, kein Benzin mehr zu erhalten.

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