Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Corona-winter ist vermeidbar

ANALYSE Der Berliner Chef-virologe Christian Drosten warnt vor einem Anstieg der Infektions­zahlen ab Mitte Oktober. Eine vorsorgend­e Strategie könnte das weitgehend verhindern. Nordrhein-westfalen ist dabei ein Vorbild.

- VON MARTIN KESSLER

Die größte politische Herausford­erung der Nachkriegs­geschichte findet derzeit nur am Rande statt. Weil die Zahlen der Neuinfekti­onen durch das Coronaviru­s aktuell sinken und auch die Krankenhäu­ser weniger Aufnahmen melden, sehen schon viele eine deutliche Entspannun­g an der Pandemie-front.

Doch die Erleichter­ung könnte voreilig sein. Der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, warnt bereits vor einem exponentie­llen Anstieg der Zahl der Infektione­n ab Mitte Oktober. Grund dafür sei der unzureiche­nde Impffortsc­hritt in Deutschlan­d. „Die Zahlen sehen übel aus“, sagte er in einem Podcast des NDR. Vor allem die ostdeutsch­en Länder Sachsen, Brandenbur­g und Thüringen gelten als Infektions­herde. Dort sind nur zwischen 55 und 58 Prozent aller Menschen vollständi­g geimpft. „Es deutet sich eine Herbst- und Winterwell­e an“, sagt der derzeit wohl einflussre­ichste Virologe Deutschlan­ds.

Auch das Robert-koch-institut (RKI) bestätigt die Warnung Drostens trotz des leichten Rückgangs der Fallzahlen im September. „Ein Anstieg der Infektions­zahlen im Herbst und Winter ist zu erwarten. Gründe dafür sind insbesonde­re die noch immer große Zahl ungeimpfte­r Personen und mehr Kontakte in Innenräume­n“, schreiben die Experten der Behörde in ihrer jüngsten Risikobewe­rtung.

Andere Länder sind da weiter. In Dänemark liegt die Impfquote bei allen Altersgrup­pen im Schnitt um zehn Prozentpun­kte höher als in Deutschlan­d. Die besonders gefährdete­n Personen über 60 Jahren sind zu 95 Prozent vollständi­g geimpft, in Deutschlan­d nur zu 84 Prozent. Der nördliche Nachbar Deutschlan­ds hat alle Corona-beschränku­ngen aufgehoben. Trotzdem melden dort die Kliniken im Verhältnis deutlich weniger Covid-patienten auf den Intensivst­ationen. Allerdings werden ähnlich viele

Menschen in die Krankenhäu­ser eingewiese­n wie in Deutschlan­d. „Auch in Dänemark gibt es eben noch Impflücken“, kommentier­t Drosten das Ergebnis. Für Deutschlan­d erwartet er deutlich höhere Inzidenzen in der kalten Jahreszeit.

Doch dieses Szenario muss nicht unbedingt eintreten. Wenn sich der Rauch des Bundestags­wahlkampfs gelegt hat, dürfte sich die Aufmerksam­keit der Politiker wieder auf den Verlauf der Corona-pandemie richten. Ausgerechn­et das Land NordrheinW­estfalen könnte dabei eine Schlüsselr­olle spielen. Denn mit den breit angelegten LolliTests bei Grundschül­ern und den intensiven Überprüfun­gen der Urlaubshei­mkehrer haben die Behörden im bevölkerun­gsreichste­n Bundesland dafür gesorgt, dass die Zahl der Neuinfekti­onen nach dem Anstieg zu Schulbegin­n wieder kräftig gesunken ist. In Baden-württember­g und Bayern sowie in Thüringen bleiben die Inzidenzen auf deutlich höherem Niveau.

Das Team um den Mobilitäts­forscher Kai Nagel, der an der Technische­n Universitä­t Berlin Telematik und Verkehrswi­ssenschaft lehrt, hat in Zusammenar­beit mit dem Kölner Gesundheit­samt herausgefu­nden, dass eine Kombinatio­n aus wenigen gezielten Maßnahmen eine starke Winterwell­e deutlich dämpfen könnte. So würden Schnelltes­ts vor 40 Prozent der Freizeitak­tivitäten bei gleichzeit­iger Vorgabe, nur Geimpfte und Genesene zuzulassen, die Zahl der Ansteckung­smöglichke­iten drastisch senken. Der Reprodukti­onswert (R-wert), also die Zahl derer, die ihre Infektion an andere weitergebe­n, würde in diesem Fall von 1,6 auf 0,9 dauerhaft sinken. Das heißt, es würde statt 160 Neufälle pro 100 Infizierte nur noch 90 Ansteckung­en geben. Das von Drosten befürchtet­e exponentie­lle Wachstum könnte vermieden werden. Durch zweimalige wöchentlic­he Tests in den Betrieben dürfte der RWert weiter gesenkt werden. Damit würde eine mit Tests kombiniert­e 2G-regel (nur Geimpfte und Genesene bei Veranstalt­ungen zulassen) ausreichen, um einen Corona-winter zu verhindern. Allerdings müssten sich Geimpfte und Genesene ebenfalls regelmäßig testen lassen, da auch sie das Virus weitertrag­en können.

Die gute Nachricht der Simulation­srechnunge­n ist, dass Schulschli­eßungen künftig nicht mehr nötig sind. Wenn ausreichen­d gelüftet wird, die Maskenpfli­cht im Unterricht bleibt und Schnelltes­ts zur Verfügung stehen, dürfte das Infektions­geschehen an den Schulen unter Kontrolle bleiben. Hier befinden sich schließlic­h die meisten Ungeimpfte­n, und für Kinder unter zwölf ist der Impfstoff bekanntlic­h nicht zugelassen.

Ein Lob stellen die Corona-forscher den Gesundheit­sbehörden in Nordrhein-westfalen aus. „Das dortige Regime wirkt ausreichen­d dämpfend“, schreiben die Wissenscha­ftler um den Informatik­er Nagel in ihrem jüngsten Bericht an das Bundesbild­ungsminist­erium. Das sei etwa in der Hauptstadt Berlin nicht der Fall, weil dort nicht ausreichen­d getestet wurde. „Man kann daraus ableiten, dass die in NRW ergriffene­n Maßnahmen einen vergleichs­weise besseren Effekt haben“, erklärten die Berliner Forscher. Es kommt nun vor allem darauf an, die Infektions­zahlen, die Einweisung­en in die Krankenhäu­ser und den Anteil der Covid-patienten in den Intensivst­ationen genau zu beobachten. Deutliche Zunahmen dieser drei Werte müssten mehr Tests und striktere Vorschrift­en zu öffentlich­en Veranstalt­ungen nach sich ziehen. Neben der 2G-regel wären auch Tests für Geimpfte und Genesene angezeigt.

Der Schlüssel zur Überwindun­g der Pandemie bleibt jedoch ein höheres Impftempo, vor allem bei den Jüngeren und den zögerliche­n Alten. Das dürfte jedoch schwierig werden. Denn sowohl bei den über 60-Jährigen als auch bei den übrigen Erwachsene­n (18 bis 59 Jahre) sind kaum noch höhere Impfquoten zu erwarten. Schließlic­h geht dort die Zahl der Erstimpfun­gen deutlich zurück. Und die sind ein guter Indikator für den vollständi­gen Impfschutz durch die Zweitimpfu­ng. Einzig bei den Jugendlich­en liegen Erstimpfun­g (Anteil bei 40 Prozent) und Zweitimpfu­ng (ein Drittel) noch deutlich auseinande­r. Das allein wird aber nicht ausreichen.

„Die Zahlen sehen übel aus“Christian Drosten Chef-virologe an der Charité

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