Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Uniform als Rüstung

Französisc­he Polizeifil­me werden mehr und mehr zu knallharte­n gesellscha­ftspolitis­chen Einlassung­en. „Bis an die Grenze“mit Publikumsl­iebling Omar Sy bestätigt den Trend.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Während das deutsche Fernsehen die Arbeit der Gesetzeshü­ter als Unterhaltu­ngsformat mit einer Unzahl an Krimi-reihen durchdekli­niert, hat sich im französisc­hen Kino längst ein Genre etabliert, das sich den Härten des Polizeiall­tages ohne klassische Mordfall-dramaturgi­e aus gesellscha­ftskritisc­her Perspektiv­e nähert. In „Poliezei“(2011) porträtier­te Regisseuri­n Maïwenn eine Pariser Polizeiein­heit, die für den Kinder- und Jugendschu­tz zuständig ist, und schuf einen der eindringli­chsten Filme zum Thema Kindesmiss­brauch. Der Cannes-sieger „Die Wütenden – Les Miserables“(2019) von Ladj Ly zeichnete aus Sicht der Gesetzeshü­ter ein präzises Bild der brodelnden, sozialen Zustände in der Pariser Banlieue.

An diese Vorgängerw­erke schließt nun auch Anne Fontaines „Bis an die Grenze“an. Aus drei sich überschnei­denden Perspektiv­en taucht der Film während seiner ersten Hälfte in den privaten und berufliche­n Alltag der Uniformier­ten ein. Bevor Virginie ( Virginie Efira) zum Dienst antritt, verabschie­det sie sich hastig von Mann und Kind und geht zur Ärztin, wo sie für den nächsten Tag einen Abtreibung­stermin vereinbart. Nach einer stürmische­n Affäre ist Virginie von ihrem Kollegen Aristide (Omar Sy) schwanger und den Strapazen dieses Arbeitstag­es seelisch kaum gewachsen.

Wie erstarrt steht sie bei einer Razzia am Seineufer, während um sie herum eine wilde Schlägerei tobt. Als sie mit ihrem Kollegen Erik (Grégory Gadebois) eine Frau nach Hause begleitet, die von ihrem Mann misshandel­t wurde, bekommt sie den aggressive­n Ehegatten, der sie sexistisch beleidigt und angreift, nicht allein unter Kontrolle. Im nächsten Kapitel wird derselbe Tag aus der Sicht Aristides gezeigt, der bisher wie ein sympathisc­hes Großmaul wirkte, aber mit dem Perspektiv­wechsel eine ganz andere Tiefe bekommt. Zwischen den großen Sprüchen versteckt sich ein Mann, der für Virginie mehr Gefühle entwickelt als er eigentlich will, der den Beruf nur mit therapeuti­scher Unterstütz­ung durchsteht und abends im dunklen Hausflur seine Uniform auszieht, um den „Schmutz“der Arbeit nicht mit in die Wohnung zu nehmen. „Halten Sie einfach den Mund,“sagt er zur lamentiere­nden Mutter, die ihren kleinen Sohn in die Gefriertru­he gesteckt hat, wo das Kind erstickt ist.

Und schließlic­h blickt das dritte Kapitel auf Erik, der stets genau auf die Dienstvors­chriften pocht, in einer zerrüttete­n Ehe lebt, dem Alkohol abgeschwor­en hat, aber immer einen Flachmann in der Tasche hat, um daran zu riechen. Nach einem langen Arbeitstag werden die drei gemeinsam zum Abschiebeg­efängnis beordert, wo sie einen Flüchtling aus Tadschikis­tan zur Deportatio­n zum Flughafen bringen sollen. Eigentlich ist dies die Aufgabe der

Es entwickelt sich ein intensives Auto-kammerspie­l, in dem sich die Uniformier­ten auch über ihre berufliche Existenz streiten

dortigen Wärter, die aber wegen eines Gefängnisb­randes keine personelle­n Ressourcen haben.

Auf der Fahrt öffnet Virginie die Akte des abgelehnte­n Asylbewerb­ers, in der von Folterunge­n in seinem Heimatland berichtet wird. Sie plädiert dafür, den Mann wieder laufen zu lassen, aber die beiden Kollegen sind dagegen. Es entwickelt sich ein intensives Auto-kammerspie­l, in dem sich die drei Uniformier­ten nicht nur über die Freilassun­g des Gefangenen, sondern auch über ihre berufliche Existenz streiten. Das ist außerorden­tlich spannend, weil Fontaine sich zuvor einen halben Film lang Zeit genommen hat, die Figuren ausführlic­h mit ihren inneren Widersprüc­hen und Belastungs­störungen zu entwickeln. Dieser ganzheitli­che Ansatz lässt in dem Konflikt über das Schicksal des Flüchtling­s ein breites Spektrum an emotionale­n Hintergrun­dinformati­onen mitschwing­en. „Bis an die Grenze“macht deutlich, dass ethische Entscheidu­ngen keineswegs nur aus einem moralische­n Gewissen, sondern auch aus einer situativen, individuel­len Gefühlslag­e heraus getroffen werden, die bewirken, dass der Panzer alltäglich­er Gleichgült­igkeit durchbroch­en wird.

 ?? FOTO: THIBAULT GRABHERR/DPA ?? Virginie Efira als Virginie und Omar Sy als Aristide in „Bis an die Grenze“. Regisseuri­n Anne Fontaine lässt sich Zeit, die Figuren mit ihren Problemen und Widersprüc­hen ausführlic­h zu entwickeln.
FOTO: THIBAULT GRABHERR/DPA Virginie Efira als Virginie und Omar Sy als Aristide in „Bis an die Grenze“. Regisseuri­n Anne Fontaine lässt sich Zeit, die Figuren mit ihren Problemen und Widersprüc­hen ausführlic­h zu entwickeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany