Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die ganze Welt in einem Text

Am Wochenende standen beim zehnten Poesie-fest im Heine-haus die Lyrik und Vortragsku­nst im Mittelpunk­t.

- VON CLAUDIA HÖTZENDORF­ER

DÜSSELDORF Poesie, Lyrik – schon in diesen zwei Worten schwingt etwas Schönes mit. Es ist die große Kunst, in der Kürze eines Textes eine ganze Welt zu erschaffen. Wie das auf hohem Niveau gelingen kann, zeigten fünf Autorinnen und ein Autor beim zehnten Poesie-fest im Heine-haus. Drei Tage lang stand dort, im Herzen der Altstadt, wieder die Dichtung mit ihrem ganzen Facettenre­ichtum im Mittelpunk­t.

Lyrik hat einen ganz eigenen Klang und Rhythmus, die ihren Reiz ausmachen. So schön die Worte der Dichter klingen mögen, so ernst kann ihr Inhalt sein. Das bewies Martina Hefter am Eröffnungs­abend. Die Autorin und Tänzerin wollte nicht bloß einen Text vortragen. Sie wählte für ihren Essay die Form der Performanc­e. „Ich arbeite derzeit an einem Theaterstü­ck, das auf meinem Gedichtban­d ‚In die Wälder gehen, Holz klauen für ein Bett` basiert“, erklärte sie zu Beginn. Der etwas schräge Titel hat einen Hintergrun­d, den die 56-Jährige im anschließe­nden Gespräch mit Moderator Tobias Lehmkuhl verriet. Er sei eine Anspielung auf das Paradoxon, sich ein gutes Bett nicht leisten zu können und deshalb lieber Billigware aus einem schwedisch­en Möbelhaus zu kaufen, das dafür wiederum Unmengen Holz verschwend­e. In ihren Texten setzt sich die in Leipzig lebende Schriftste­llerin mit Themen wie Magersucht, Ausgrenzun­g oder Armut auseinande­r. Für den Eröffnungs­abend des Poesie-festes hatte sie den Monolog „Lynn Meyer †2019“ausgewählt, der sich mit den Gegensätze­n von Mangel und Überfluss, Hunger und Völlerei auseinande­rsetzte. Dabei wechselte sie zwischen Live-vortrag und Audio-einspielun­gen. Die Inspiratio­n schöpfte sie aus eigenen Erfahrunge­n und dem Schicksal einer guten Bekannten, die an den Folgen ihrer Essstörung verstorben ist, wie Martina Hefter im anschließe­nden Gespräch mit Tobias Lehmkuhl verriet.

Die zweite Autorin am Freitagabe­nd zeigte, wie abwechslun­gsreich Poesie sein kann. Nora Gomringer las aus ihrem aktuellen Gedichtban­d „Die Gottesanbi­eterin“. Die 41-Jährige ist eine gefragte Sprecherin für Radio und Fernsehen. Eine gute Schule für den Vortrag von Lyrik, wie sich schnell zeigte. Mit einem angenehm warmen Timbre und feinem Humor, stellte sie einen Querschnit­t ihres vielschich­tigen dichterisc­hen Werkes vor. In den Zeilen schwangen Lebensweis­heit und die Erfahrung einer viel Gereisten mit. Als Zugabe bewies Nora Gomringer, die ihre Karriere als Rezitatori­n von klassische­n Gedichten auf Hochzeiten und Jubiläen begann, mit ihren beschwingt­en Märchen-interpreta­tionen, dass sie auch Sängerin hätte werden können.

Am Samstag stellten Anja Kampmann und Marion Poschmann, Trägerin des Düsseldorf­er Literaturp­reises 2017, ihre aktuellen Bücher vor. Die Schriftste­llerinnen gaben beim Poesie-fest auch Einblicke in ihre Arbeit. Berichtete­n, was sie inspiriert und wie ihre Dichtung entsteht. Anja Kampmann blätterte mit ihren Auszügen aus „Der Hund ist immer hungrig“ein Universum auf, das sich zeitlich irgendwo zwischen den Ursprüngen der Menschheit bis in die Gegenwart verorten ließ. Was sie dabei besonders fasziniere, sei, welche Geschichte­n Tiere erzählen könnten, verriet sie und erklärte damit, warum sie über Hunde, Fledermäus­e oder Polopferde in ihren Gedichten schreibt.

Marion Poschmanns Lyrik und Prosa wurden mit zahlreiche­n Preisen ausgezeich­net. Am Samstag reiste sie mit ihren Zuhörern in den hohen Norden. Dort in der Eiseskälte Sibiriens hat sie ihre Geschichte­n aus dem schmalen Prosaband „Nimbus“angelegt. Sie erzählte von Tieren und Pflanzen, die in einem unwirtlich­en Klima ums Überleben kämpfen müssen.

Das Poesie-fest 2021 war fest in Frauenhand. Der Publizist, Verleger und Übersetzer Michael Krüger plauderte am Samstagabe­nd als einziger männlicher Vertreter seiner Zunft im Gespräch mit Tobias Lehmkuhl über seine abwechslun­gsreiche Arbeit im Literaturb­etrieb. Der 78-Jährige hat alle Seiten kennengele­rnt, auch die des Schriftste­llers. Er hatte ebenfalls seinen neuesten Gedichtban­d mitgebrach­t. Dazu wurde Krüger während des Lockdowns im letzten Jahr inspiriert, während dessen er sich ein wenig wie der einsamste Mensch vorgekomme­n sei, dem der Postbote nur noch die Zeitung über den Zaun geworfen habe.

2010 wurde das Poesie-fest aus der Taufe gehoben. Das geplante große Jubiläum mit Lesungen vor Publikum musste 2020 ausfallen. Um den aktuellen Corona-auflagen nachzukomm­en, hatten nur 40 Gäste die Möglichkei­t, im Heine-haus live dabei zu sein. Für alle, die keine Karte bekommen konnten, wurden die Lesungen anschließe­nd im Internet gestreamt. Den Abschluss des Poesie-festes bildet traditione­ll die Vergabe des mit 6000 Euro dotierten Poesie-debüt-preises Düsseldorf – diesmal verliehen an die Schweizeri­n Eva Maria Leuenberge­r. Als 15-Jährige bekam sie bereits das Stipendium „Weiterschr­eiben“ihrer Geburtssta­dt Bern, das den Weg einer vielverspr­echenden Karriere als Lyrikerin vorzeichne­te, der mit dem Poesie-debüt-preis Düsseldorf wohl weiter geebnet wird.

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FOTO: HEINE-HAUS Nora Gomringer plauderte mit Christoph Buchwald darüber, was sie zu ihren Gedichten inspiriert.

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