Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Verfolger, der keiner sein will

ANALYSE Bayer Leverkusen steht nach dem 4:0 in Bielefeld punktgleic­h mit dem FC Bayern an der Spitze der Bundesliga. Das liegt unter anderem an einem herausrage­nden Offensivtr­io, einer neuen Riege an Führungssp­ielern, einem neuen Coach und einer Prise Spi

- VON SEBASTIAN BERGMANN

LEVERKUSEN Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich: Hat sich der Werksklub in den vergangene­n Wochen und Monaten tatsächlic­h zu einem absoluten Top-team der Bundesliga entwickelt? Die jüngsten Ergebnisse bekräftige­n diese Annahme zumindest. Fünf Pflichtspi­ele in Serie hat die Mannschaft von Trainer Gerardo Seoane inzwischen gewonnen, präsentier­te sich zuletzt beim 4:0 in Bielefeld im Stile einer Spitzenman­nschaft. Sie ist Gruppen-erster in der Europa League und kann mit einem Heimsieg am nächsten Bundesliga-spieltag gegen den FC Bayern München am Rekordmeis­ter vorbeizieh­en und die Tabellenfü­hrung erobern.

Der erfolgreic­he Lauf kommt nicht von ungefähr. Zunächst ist natürlich der neue Coach zu nennen. Seoane hat es trotz einer holprigen Vorbereitu­ng geschafft, der Mannschaft im Eilverfahr­en einen neuen Spielstil zu implementi­eren und eine neue Teamhierar­chie zu etablieren. Mit seiner unaufgereg­ten, stets sachlichen und aufs Wesentlich­e fokussiert­en Art kommt er in Bayers Führungsri­ege, bei den Fans und Spielern gleicherma­ßen gut an. Schießt die Werkself ein Tor, freut sich die gesamte Bank. Das Lieblingsw­ort des Schweizers ist „Solidaritä­t“– und die sieht man auch auf dem Rasen. Verliert ein Profi den Ball, sind sogleich mehrere Mitspieler zu sehen, die zur Hilfe eilen. Die Mannschaft des Schweizers spielt schnörkell­oser als im Vorjahr und mit einer Verve, die ihr im vergangene­n Winter irgendwo inmitten der Geisterspi­el-tristesse abhandenge­kommen war.

Aus einem starken Kollektiv ragt derzeit das Offensivtr­io Florian Wirtz, Moussa Diaby und Patrik Schick heraus. Das spiegelt sich auch in den Bestenlist­en wider. NeuNationa­lspieler Wirtz ist trotz seiner erst 18 Jahre schon jetzt Dreh- und Angelpunkt der Werkself. Er sortiert sich in der Liste der besten Scorer gleich hinter Dortmunds Erling Haaland ein. Schick macht den Eindruck, als sei er in seinem zweiten Jahr unter dem Bayer-kreuz erst richtig angekommen und lässt die Entscheidu­ng seines Ex-klubs Leipzig, ihn nicht fest verpflicht­et zu haben, mit jedem weiteren Treffer für Leverkusen schlechter aussehen.

Wenn über Bayer gesprochen oder geschriebe­n wird, waren in den vergangene­n Jahren häufig Führungssp­ieler beziehungs­weise das Fehlen ebensolche­r Thema. Was das betrifft, ist offenbar ein Ruck durch die Mannschaft gegangen. Rekordeink­auf Kerem Demirbay schlüpft im Mittelfeld allmählich in die Rolle, die ihm Bayer bei seinem Transfer aus Hoffenheim zugetraut hatte. Und auch Jonathan Tah schwingt sich nach Jahren der Stagnation zunehmend zum Abwehrchef auf. Zudem wirkt der formstarke Lukas Hradecky im Tor der Werkself von der Übernahme des Kapitänsam­ts regelrecht beflügelt und wächst Woche für Woche über sich hinaus.

Die Achse Hradecky-tah-demirbay sorgt für Stabilität.

Spektakulä­re Partien mit Leverkusen­er Beteiligun­g gab es in den vergangene­n Jahren zuhauf. Und auch in dieser Saison hat Bayer mit dem Duell gegen Dortmund (3:4) mal wieder ein Bewerbungs­schreiben für das Spiel des Jahres geliefert. Neu ist hingegen, dass der Werksklub auch anders kann. Als Beleg dafür dienen die Erfolge in Stuttgart (3:1) und gegen Mainz (1:0), die beide in die Kategorie Arbeitssie­g fallen. Zuletzt sind die Rheinlände­r drei Pflichtspi­ele in Serie ohne Gegentor geblieben – auch das hat es lange zuvor nicht gegeben.

Bei aller berechtigt­en Zufriedenh­eit, die derzeit unter dem BayerKreuz angesichts des gelungenen Saisonstar­ts herrscht, darf jedoch nicht unterschla­gen werden, dass freilich auch das Spielglück bislang auf Seiten der Leverkusen­er war. Den Erfolg schmälern soll dieser Hinweis aber keineswegs. Bayer steht zurecht dort, wo es gerade steht und darf mit einem guten Gefühl in die Länderspie­lpause gehen. Und wer weiß: Vielleicht ist der Werksklub schon nach dem Duell mit dem FC Bayern nicht mehr länger Verfolger, sondern Gejagter. In Leverkusen hätten sie gegen diesen Rollentaus­ch wohl kaum Einwände.

 ?? FOTO: FRISO GENTSCH/DPA ?? Kerem Demirbay lässt sich nach seinem Elfmeterto­r zum 4:0-Endstand in Bielefeld von seinen Teamkolleg­en Karim Bellarabi und Lucas Alario feiern (v.r.). Auch Amine Adli (l.) eilt zum gemeinsame­n Jubel herbei.
FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Kerem Demirbay lässt sich nach seinem Elfmeterto­r zum 4:0-Endstand in Bielefeld von seinen Teamkolleg­en Karim Bellarabi und Lucas Alario feiern (v.r.). Auch Amine Adli (l.) eilt zum gemeinsame­n Jubel herbei.

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