Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die blinden Flecken der Erinnerung

In der Ukraine gedenkt Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier der Opfer der Ns-verbrechen.

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KIEW (dpa) Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier hat in der Ukraine an die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg erinnert und zu intensiver­em Gedenken aufgerufen. „Ohne ehrliche Erinnerung gibt es keine gute Zukunft“, sagte er am Mittwoch bei einer Gedenkfeie­r in Kiew. Die Orte nationalso­zialistisc­her Verbrechen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunio­n hätten „keinen angemessen­en Ort in unserer Erinnerung“. „Die Ukraine ist auf unserer Landkarte der Erinnerung nur viel zu blass, viel zu schemenhaf­t verzeichne­t“, sagte Steinmeier.

Am 22. Juni 1941 überfiel Hitlerdeut­schland im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunio­n. Das Land verzeichne­te mit 27 Millionen Toten die größte Zahl an Opfern in Europa. Steinmeier hatte zum 80. Jahrestag bereits kritisiert, die Kriegsopfe­r der Völker der damaligen Sowjetunio­n seien weniger stark in das kollektive Gedächtnis eingebrann­t, als ihr Leiden es fordere.

In Kiew sprach er zum 80. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar. Am 29. und 30. September 1941 erschossen deutsche Einsatzgru­ppen mit Soldaten, Polizisten und Ss-männern hier 33.771 jüdische Bewohner der besetzten Stadt. Bis zur Befreiung der ukrainisch­en Hauptstadt durch die Rote Armee im November 1943 wurden in Babyn Jar (Altweibers­chlucht) rund 100.000 Menschen ermordet. Die Schlucht gilt als größtes Massengrab Europas.

Die Menschheit­sverbreche­n des Holocaust hätten nicht in den Konzentrat­ionslagern begonnen, sagte Steinmeier, sondern bereits auf dem Feldzug Richtung Osten. „Weit mehr als eine Million Juden fiel diesem Holocaust durch Kugeln in der Ukraine zum Opfer“, sagte er und fragte: „Wer in meinem Land, in Deutschlan­d, weiß heute von diesem Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen?“

An den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj und den israelisch­en Präsidente­n Izchak Herzog gewandt betonte er: „Wir Deutsche wissen um unsere Verantwort­ung vor der Geschichte. Es ist eine Verantwort­ung, die keinen Schlussstr­ich kennt. Es ist eine Verantwort­ung für unsere gemeinsame Zukunft.“Doch leider könne er heute nicht sagen, dass die Deutschen ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt hätten: „Es schmerzt mich und es macht mich zornig, dass Antisemiti­smus auch in Deutschlan­d – ausgerechn­et in Deutschlan­d – wieder stärker geworden ist.“

Selenskyj nannte das Massaker von Babyn Jar ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Babyn Jar sei „ein Ort, den Gott für immer verlassen hat“. Er sprach von zwei Verbrechen in der Schlucht: Dem Massenmord und dem Versuch, daran nicht mehr zu erinnern. So etwas dürfe nie wieder geschehen.

Die Babyn-jar-gedenkstät­te veröffentl­ichte eine Liste mit 159 Beteiligte­n am Massaker. Nur einige Offiziere seien nach Ende des Zweiten Weltkriegs verurteilt worden: „Die große Mehrzahl kehrte zu einem normalen Leben nach dem Krieg zurück.“Historiker vermuten, dass niemand der Beteiligte­n mehr lebt.

Umstritten ist der geplante Bau einer Holocaust-gedenkstät­te in Babyn Jar zur Erinnerung an die 2,5 Millionen ermordeten Juden in Osteuropa. Nationalis­tische Kreise in der Ukraine werfen dem Projekt vordergrün­dig wegen russischer Geldgeber zu große Nähe zum Nachbarlan­d vor. Sie befürchten, dass der Beteiligun­g ukrainisch­er Helfer am Holocaust zu viel Raum gegeben werde. Selenskyj zeigte sich dagegen überzeugt von der Idee: „Das wird den Ermordeten nicht helfen, aber den Lebenden.“

Steinmeier besuchte auch eine Gedenkstät­te im nördlich von Kiew gelegenen Ort Korjukiwka, wo innerhalb von zwei Tagen rund 6700 Männer, Frauen und Kinder der größten und brutalsten Strafaktio­n des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen waren. Nach einer Kranzniede­rlegung und dem Besuch des Stadtmuseu­ms sprach der Bundespräs­ident hier mit Schülern und Lehrern darüber, wie man in Korjukiwka an die deutschen Verbrechen erinnert.

 ?? FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA ?? Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier verneigt sich beim Denkmal für zivile Opfer der deutschen Massaker in Korjukiwka.
FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier verneigt sich beim Denkmal für zivile Opfer der deutschen Massaker in Korjukiwka.

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