Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Patti Smith singt um ihr Leben
Helene Hegemann widmet der Sängerin einen autobiografischen Essay über die existenzielle Wirkung von Rockmusik.
Es stimmt nicht, was Helene Hegemann schreibt, man kann Musik sehr wohl hören, wenn man liest, wie jemand sie beschreibt. Durch Beschreibung wird Musik nicht zerstört, wie Hegemann meint, und vielleicht meint sie das ja auch gar nicht ernst, denn ihr Buch über Patti Smith kann man durchaus hören beim Lesen, fühlen sogar. Es klingt angemessen hart, anmaßend apodiktisch, total existenziell, und zwischen den Zeilen brennt Licht.
„Patti Smith“heißt der neue Band aus der Musikbibliothek von Kiepenheuer und Witsch (100 Seiten, zehn Euro), und Helene Hegemann weicht insofern vom Muster der meisten Bände dieser Reihe ab, als sie ausdrücklich keinen Fan-bericht vorlegt, keine Heiligenbeschreibung und Lobrede. Sie empfinde vielmehr „konfuse Genervtheit“Patti Smith gegenüber.
Deren „Scheuklappenspiritualität“strenge sie an. Hegemann bezeichnet die 74-jährige Urmutter des Punk-rock, Schamanin der Off-kultur, Überlebende einer Zeit, in der das Jungsein eine elementare Bedrohung war, als „spirituelles Maskottchen der Hochkultur“.
Sie nimmt Smith übel, dass die sich auf Instagram wie eine nette Hausfrau zwischen Esoterik und Konformismus gebärde: „Es stellt sich die Frage, warum jemand, der den äußeren Rand der Gesellschaft zu überschreiten versucht hat und damit erfolgreich war, die Distanz zu dieser Gesellschaft restlos aufgegeben hat.“
So fängt dieser literarische Punkrock-song also an, und so geht er weiter. Hegemann lernte die Lieder von Patti Smith kennen, als ihre Mutter sie in schizophrenen Wahnzuständen auflegte. „Wenn ich nach der Schule nach Hause kam und irgendeine Basslinie durch das Treppenhaus wummerte, wusste ich, dass mir ein Kampf um Leben und Tod bevorstand.“Mit 13 nahm Hegemann an einem Tanzwettbewerb teil, den sie zu einer Coverversion von Patti Smiths (von Bruce Springsteen komponiertem) Song „Because The Night“gewann. Sechs Stunden später starb Hegemanns Mutter an einer Hirnblutung.
Es gibt von Patti Smith einen Song, in dem sie beschreibt, wie sich jemand ein Messer in die Halsschlagader rammt, um in seinem eigenen
Blut unterzugehen, weil kein Ozean in der Nähe ist. Und wenn man nun fragt, wie man über solche Musik schreiben soll, kann dieses Buch die Antwort sein. Hegemann hatte alleine mit ihrer Mutter gelebt, Tage nach deren Tod holte ihr Vater sie zu sich. Das ist der Theatermann Carl
Hegemann, ein enger Vertrauter von Christoph Schlingensief. So saß Helene Hegemann also als 13-Jährige in einer Mehrzweckhalle in Wien, wo ihr Vater, den sie kaum kannte, mit Schlingensief Kunst machte, und mit ihr saß da eine Frau mit löchrigem Mantel und filzigen Haaren. Sie sprach Hegemann auf Englisch an, aber die antwortete nicht: „Bei unserer ersten Begegnung hielt ich Patti Smith für eine Obdachlose.“
Helene Hegemann wurde 2010 mit dem Roman „Axolotl Roadkill“berühmt, an dem sich wegen Plagiatsvorwürfen eine Debatte entzündete. Wie großartig sie über Musik schreiben kann, zeigte ihr Roman „Jage zwei Tiger“, wo ein MadonnaKonzert vorkommt. In „Patti Smith“geht sie noch weiter. Sie beschreibt nicht mehr die Musik, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit ihrer Wirkung. Sie arbeitet heraus, wie zufällig und dennoch unwiderruflich unsere Leben mit Popsongs, Stimmen und Künstlerpersönlichkeiten verstrickt sind. Wie intensiv Musik prägen kann.
Musik sei ein Träger, schreibt Hegemann, und wenn sie ein bestimmtes Lied in der S-bahn höre, „Horses“von Patti Smith etwa, verbringe sie die nächsten Tage mitunter im Bett, weil sie das so umhaue. Musik ist existenziell, aufgeladen, sie lässt einen eine Schwelle übertreten zu etwas, das außerhalb der Realität lauert. „Als würde ein Schleier entfernt und dahinter der Kern der eigenen Existenz zum Vorschein kommen“, schreibt Hegemann.
Patti Smith gab bei Konzerten in den 70er-jahren buchstäblich alles. Sie schrie, bis sie ihre Seele auf der Zunge trug. Sie wurde körperlich bis zur Aggression. Sie beglaubigte ihre Lieder mit ihrer eigenen Existenz. Patti Smiths Stimme sei ein Medium, schreibt Hegemann: „Ein Medium im Körper einer protestantischen Missionarin. Ihre Stimme ist ein Ort, an dem ihr Kräfte zur Verfügung stehen, die über die eigenen Kräfte hinausgehen.“Im Grunde geht Hegemann ähnlich vor, und dadurch kommt es zu dem Glücksfall, dass das Schreiben über Musik und der Gegenstand dieses Schreibens vom selben Geist getragen werden.
Vielleicht kann man der späten Patti Smith, die nach Bestsellern wie „Just Kids“als Schriftstellerin sogar präsenter ist denn als Musikerin, tatsächlich vorwerfen, sie diene sich der Hochkultur an. Wenn man dann aber sieht, wie sie 2016 an Bob Dylans Stelle den Song „A Hard Rain's AGonna Fall“vor der Nobelpreis-akademie in Stockholm sang, wäre auch ein anderer Schluss möglich. Sie versingt sich zwei Mal, unterbricht den Vortrag sogar und sagt, wie nervös sie sei. Eine Ikone der Gegenkultur ist zu Gast an einem Ort, der maximal weit von ihrer Umlaufbahn entfernt liegt. Und nun irritiert sie diese in Abendgarderobe versammelten Leute durch Menschlichkeit, Emotionalität, durch Arglosigkeit, Naivität und Ursprünglichkeit derart, dass sie gerührt sind, den Tränen nah und erschüttert. Ist das nicht enorm viel?
„Patti Smith“ist ein Buch, an dem man sich reiben kann wie an einem kantigen Song mit dornigem Text.