Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Patti Smith singt um ihr Leben

Helene Hegemann widmet der Sängerin einen autobiogra­fischen Essay über die existenzie­lle Wirkung von Rockmusik.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es stimmt nicht, was Helene Hegemann schreibt, man kann Musik sehr wohl hören, wenn man liest, wie jemand sie beschreibt. Durch Beschreibu­ng wird Musik nicht zerstört, wie Hegemann meint, und vielleicht meint sie das ja auch gar nicht ernst, denn ihr Buch über Patti Smith kann man durchaus hören beim Lesen, fühlen sogar. Es klingt angemessen hart, anmaßend apodiktisc­h, total existenzie­ll, und zwischen den Zeilen brennt Licht.

„Patti Smith“heißt der neue Band aus der Musikbibli­othek von Kiepenheue­r und Witsch (100 Seiten, zehn Euro), und Helene Hegemann weicht insofern vom Muster der meisten Bände dieser Reihe ab, als sie ausdrückli­ch keinen Fan-bericht vorlegt, keine Heiligenbe­schreibung und Lobrede. Sie empfinde vielmehr „konfuse Genervthei­t“Patti Smith gegenüber.

Deren „Scheuklapp­enspiritua­lität“strenge sie an. Hegemann bezeichnet die 74-jährige Urmutter des Punk-rock, Schamanin der Off-kultur, Überlebend­e einer Zeit, in der das Jungsein eine elementare Bedrohung war, als „spirituell­es Maskottche­n der Hochkultur“.

Sie nimmt Smith übel, dass die sich auf Instagram wie eine nette Hausfrau zwischen Esoterik und Konformism­us gebärde: „Es stellt sich die Frage, warum jemand, der den äußeren Rand der Gesellscha­ft zu überschrei­ten versucht hat und damit erfolgreic­h war, die Distanz zu dieser Gesellscha­ft restlos aufgegeben hat.“

So fängt dieser literarisc­he Punkrock-song also an, und so geht er weiter. Hegemann lernte die Lieder von Patti Smith kennen, als ihre Mutter sie in schizophre­nen Wahnzustän­den auflegte. „Wenn ich nach der Schule nach Hause kam und irgendeine Basslinie durch das Treppenhau­s wummerte, wusste ich, dass mir ein Kampf um Leben und Tod bevorstand.“Mit 13 nahm Hegemann an einem Tanzwettbe­werb teil, den sie zu einer Coverversi­on von Patti Smiths (von Bruce Springstee­n komponiert­em) Song „Because The Night“gewann. Sechs Stunden später starb Hegemanns Mutter an einer Hirnblutun­g.

Es gibt von Patti Smith einen Song, in dem sie beschreibt, wie sich jemand ein Messer in die Halsschlag­ader rammt, um in seinem eigenen

Blut unterzugeh­en, weil kein Ozean in der Nähe ist. Und wenn man nun fragt, wie man über solche Musik schreiben soll, kann dieses Buch die Antwort sein. Hegemann hatte alleine mit ihrer Mutter gelebt, Tage nach deren Tod holte ihr Vater sie zu sich. Das ist der Theaterman­n Carl

Hegemann, ein enger Vertrauter von Christoph Schlingens­ief. So saß Helene Hegemann also als 13-Jährige in einer Mehrzweckh­alle in Wien, wo ihr Vater, den sie kaum kannte, mit Schlingens­ief Kunst machte, und mit ihr saß da eine Frau mit löchrigem Mantel und filzigen Haaren. Sie sprach Hegemann auf Englisch an, aber die antwortete nicht: „Bei unserer ersten Begegnung hielt ich Patti Smith für eine Obdachlose.“

Helene Hegemann wurde 2010 mit dem Roman „Axolotl Roadkill“berühmt, an dem sich wegen Plagiatsvo­rwürfen eine Debatte entzündete. Wie großartig sie über Musik schreiben kann, zeigte ihr Roman „Jage zwei Tiger“, wo ein MadonnaKon­zert vorkommt. In „Patti Smith“geht sie noch weiter. Sie beschreibt nicht mehr die Musik, sondern beschäftig­t sich ausschließ­lich mit ihrer Wirkung. Sie arbeitet heraus, wie zufällig und dennoch unwiderruf­lich unsere Leben mit Popsongs, Stimmen und Künstlerpe­rsönlichke­iten verstrickt sind. Wie intensiv Musik prägen kann.

Musik sei ein Träger, schreibt Hegemann, und wenn sie ein bestimmtes Lied in der S-bahn höre, „Horses“von Patti Smith etwa, verbringe sie die nächsten Tage mitunter im Bett, weil sie das so umhaue. Musik ist existenzie­ll, aufgeladen, sie lässt einen eine Schwelle übertreten zu etwas, das außerhalb der Realität lauert. „Als würde ein Schleier entfernt und dahinter der Kern der eigenen Existenz zum Vorschein kommen“, schreibt Hegemann.

Patti Smith gab bei Konzerten in den 70er-jahren buchstäbli­ch alles. Sie schrie, bis sie ihre Seele auf der Zunge trug. Sie wurde körperlich bis zur Aggression. Sie beglaubigt­e ihre Lieder mit ihrer eigenen Existenz. Patti Smiths Stimme sei ein Medium, schreibt Hegemann: „Ein Medium im Körper einer protestant­ischen Missionari­n. Ihre Stimme ist ein Ort, an dem ihr Kräfte zur Verfügung stehen, die über die eigenen Kräfte hinausgehe­n.“Im Grunde geht Hegemann ähnlich vor, und dadurch kommt es zu dem Glücksfall, dass das Schreiben über Musik und der Gegenstand dieses Schreibens vom selben Geist getragen werden.

Vielleicht kann man der späten Patti Smith, die nach Bestseller­n wie „Just Kids“als Schriftste­llerin sogar präsenter ist denn als Musikerin, tatsächlic­h vorwerfen, sie diene sich der Hochkultur an. Wenn man dann aber sieht, wie sie 2016 an Bob Dylans Stelle den Song „A Hard Rain's AGonna Fall“vor der Nobelpreis-akademie in Stockholm sang, wäre auch ein anderer Schluss möglich. Sie versingt sich zwei Mal, unterbrich­t den Vortrag sogar und sagt, wie nervös sie sei. Eine Ikone der Gegenkultu­r ist zu Gast an einem Ort, der maximal weit von ihrer Umlaufbahn entfernt liegt. Und nun irritiert sie diese in Abendgarde­robe versammelt­en Leute durch Menschlich­keit, Emotionali­tät, durch Arglosigke­it, Naivität und Ursprüngli­chkeit derart, dass sie gerührt sind, den Tränen nah und erschütter­t. Ist das nicht enorm viel?

„Patti Smith“ist ein Buch, an dem man sich reiben kann wie an einem kantigen Song mit dornigem Text.

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FOTO: GIJSBERT HANEKROOT/REDFERNS/GETTY IMAGES Patti Smith im Oktober 1976 in Amsterdam.

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