Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Groß-experiment gegen Gedränge an Bahnsteigen
Mit 1500 Probanden untersuchen Forschende das Verhalten von Menschenmassen in verschiedenen Situationen am Gleis. Das Forschungsprojekt „Croma“im Detail
OBERBILK Schwarze Kleidung, grüne Mützen und bunte Klebepunkte auf den Schultern: In den kommenden vier Tagen durchlaufen 1500 Menschen drei Versuchsstationen. Ziel ist es, das Forschungsprojekt „CroMa“mit vielen Daten zu füttern. Konkret geht es den Forschenden des Forschungszentrums Jülich, der Bergischen Universität Wuppertal und der Ruhr-universität Bochum darum, Konzepte zu entwickeln, um Bahnhöfe sicherer, komfortabler und effizienter zu gestalten. Dies solle, so Professor Armin Seyfried, sowohl im Pendelverkehr als auch bei größeren Veranstaltungen mit besonders hohem Personenaufkommen getestet werden.
Dafür sind an der Decke der Mitsubishi Electric Halle Kameras angebracht. Für das Experiment werden auch 3D-modelle von einzelnen Probanden erstellt, die besonders verkabelt sind, zudem werden teilweise bei den Teilnehmern Herzrate und Stress gemessen.
Mit schwarzem Moltonstoff ist die Halle in drei Segmente unterteilt. Beim ersten Versuchsaufbau ist eine S-bahn nachempfunden worden. Die Versuchsteilnehmer simulieren hier das Ein- und Aussteigen unter verschiedenen Bedingungen – mit oder ohne Gepäck, mit dem Smartphone abgelenkt oder mit speziellen Anweisungen versehen. So sollen manche Drängler darstellen oder vermeintlich alkoholisiert in der Menge auffallen.
In der nächsten Halle ist ein Bahnsteig nachgebaut, extra erhöht, auf dem aus Holzbrettern eine improvisierte Pommesbude gezimmert ist, mit Klebeband werden andere Hindernisse auf dem Boden simuliert. Hier möchten die Forschenden herausfinden, wie sich die Probanden beim Warten verhalten. „Es gibt hierbei auch in der Realität große Unterschiede“, erläutert Maik Boltes vom Forschungszentrum Jülich. Da gebe es Pendler, die jeden Tag genau wissen, an welcher Stelle sie am effizientesten einsteigen, wo der beste Sitz- und Warteplatz ist. Aber auch die Gelegenheitsnutzer von Öffentlichen Verkehrsmitteln, die erstmal stehen bleiben und sich orientieren müssen, gegebenenfalls über den Bahnsteig hetzen, um das richtige Abteil zu finden. Hier möchte man herausfinden, wo sich die Leute am liebsten aufhalten und wie man Wege und Infos besser kenntlich macht.
Der dritte Versuchsaufbau soll eine Veranstaltungsabsperrung darstellen. Dort soll das Verhalten in einer großen, drängende Masse und in Warteschlangen genauer untersucht werden.
„Spannend an unserem Experiment ist, dass wir nun auch den sozialpsychologischen Aspekt genauer erforschen“, sagt Maik Boltes. Während der Pandemie lag das Projekt anderthalb Jahre auf Eis. In dieser Zeit habe man Einzelversuche durchgeführt, sagt Boltes. „Daran hängen auch acht Doktorarbeiten, die Zeit drängt also ein wenig.“
Die Probanden kommen aus unterschiedlichen Schichten. Frederic
Trösch (32) und Yusuf Aydin (20) studieren und haben durch Zufall von der Untersuchung erfahren. „Ich fahre selbst viel mit der Bahn, wenn ich mit den Kindern unterwegs bin, und auch oft mit dem Rad“, erzählt Trösch. Es sei spannend, die Experimente mitzumachen, „auch wenn wir am ersten Tag noch viel Wartezeit hatten“. Jochen Strohschneider (68) fährt nie mit dem ÖPNV, möchte als Pensionär aber gerne die freie Zeit nutzen und nimmt erstmals an solch einem Versuch teil.
Große Beteiligung Die Abkürzung Croma steht für „Crowd Management in Verkehrsinfrastrukturen“. Gefördert wird es von August 2018 bis Juli 2022 mit
3,4 Millionen Euro durch das Bundesforschungsministerium. Profitieren sollen von den Erkenntnissen unter anderem die Deutsche Bahn, die Stadt Düsseldorf, die Bundespolizei und weitere Verkehrsbetriebe sowie Firmen aus der Veranstaltungsbranche.
Weltweite Forschung Für das Projekt ist man rund um den Globus eng vernetzt, in Deutschland wird seit 2006 zum Thema geforscht. Nach dem Experiment werden die Daten ausgewertet. Bis Mitte 2022 sollen die Ergebnisse an die involvierten Unternehmen weitergeleitet werden.
Petra Welsch (52) arbeitet im Hygiene- und Sicherheitsbereich im Catering und hat in den vergangenen Monaten große Menschenansammlungen vermieden. Da das Experiment unter 3G-regelung mit Vorab-schnelltests stattfindet, nutzt sie es auch, um sich selbst an größere Menschenmassen zu gewöhnen. „Wenn ich jetzt auf ein Konzert wollte, kann ich so schon einmal gucken, wie sich die Menschen bewegen. Das finde ich besonders aufschlussreich.“