Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Bürgerbus fahren ist viel mehr als von A nach B
Menschen auf dem Land sind aufs Auto angewiesen, um nicht festzusitzen. Bürgerbusse schaffen da neben mehr Mobilität auch ein Stück Freiheit, vor allem für ältere Leute wie Gudrun Platen (83). Ein Reisebericht.
MENZELEN Ihren Führerschein hat Gudrun Platen schon vor gut zehn Jahren abgegeben. Und Fahrradfahren funktioniert auch nicht mehr, weil sich die 83-Jährige nicht mehr auf ihren Kreislauf verlassen kann. Dennoch ist die alte Dame, die ihren Haushalt immer noch selbstständig führt, nicht nur auf ihre vier Wände an der Heidstraße in BönningRill festgelegt. Ihre beiden Töchter und deren Familien wohnen oben im Haus oder direkt nebenan. Die bringen die Mama, beziehungsweise Oma bei Bedarf da hin, wo sie hin muss. Aber seit gut einem Jahr ist sie nicht mal mehr darauf angewiesen. Seit der Bürgerbus wenige Meter von ihrer Haustür entfernt hält, hat die Seniorin ein Stück Freiheit zurückgewonnen. „Den Bürgerbus find‘ ich gut“, sagt die fröhliche 83-Jährige. Mit ihrer Freundin aus der Nachbarschaft steigt sie immer dienstags ein, lässt sich nach Alpen bringen, um nach dem Besuch auf dem Friedhof und dem Grab ihres Mannes ein wenig einzukaufen und zum Schluss in der Amaliengalerie ein Käffchen zu trinken. „Darauf freu‘ ich mich immer richtig“, sagt die Oma, die längst Uroma ist.
Heute hat sie sich mit der RP verabredet, um eine Sondertour zu machen und einen Eindruck davon zu vermitteln, welch‘ Segen das ehrenamtliche Mobilitätsangebot für Menschen auf dem Lande bedeutet, die wie sie nicht mal eben ins Auto steigen können. Den Fahrplan für den Bürgerbus hat sie immer griffbereit im Wohnzimmer liegen. Sie kennt sich gut damit aus. „Ich bin ja schon oft mit dem Bus gefahren“, sagt sie stolz.
Abfahrt ist zwölf Minuten vor der vollen Stunde. Vier mal am Tag. Fünf Minuten vorher macht sie sich auf den Weg. Bis zur markierten Haltestelle sind’s nur ein paar Schritte. Kaum ist die erreicht, erspäht sie in der Ferne bereits die Umrisse des weißen Sprinters. „Da kommt er“, sagt sie. Es dauert noch ein Weilchen, bis der Wagen, der bis zu acht Leute mitnehmen darf, anhält. Die Tür öffnet sich. Dann gibt’s ein freundliches Hallo. Am Steuer sitzt Thomas Hommen, der quasi in der
Nachbarschaft wohnt. Die beiden kennen sich. Klar.
Gudrun Platen nimmt vorn Platz, da, wo sie immer sitzt. Ihre Handtasche hängt sie über den knallgelben Griff neben ihrem Sitz. Der Bus ist klimatisiert. Angenehm bei der Hitze draußen. Die bremst offenkundig das Fahrgastaufkommen. Bis auf die 83-Jährige und ihre Begleitung ist lange kein weiterer Passagier an Bord.
Sonst seien es mehr, die mitfahren. „Oft auch Frauen und Kinder aus der Ukraine, die hier in der Nähe wohnen“, erzählt die alte Dame. „Alles nette Menschen, auch wenn man sich nicht so gut unterhalten kann.“Heute morgen spricht sie mit dem Fahrer. Das ist im Bürgerbus nicht ausdrücklich verboten. Thomas Hommen erfüllt der 83-Jährigen auf Bitte der Redaktion den Wunsch, „mal die ganze Tour zu fahren“. Der Bürgerbusverein spendiert die Fahrt. „Ich zahle sonst immer mehr als die 1,50 Euro für die Fahrkarte“, erzählt sie. „Die Fahrer sollen ja auch was kriegen.“Ein NeunEuro-ticket, „nein, das brauch‘ ich nicht“, sagt sie.
Los geht die gemütliche Fahrt. Beim Blick aus dem Fenster sieht sie, wie sich die Gemeinde verändert. „Hier wird ja alles zugebaut“, sagt die Frau, die seit gut 60 Jahren in Menzelen lebt, als der Bus an der Bönninger Straße an einer Wiese vorbeifährt, wo Bodenaushub verrät, dass Häuslebauer aktiv sind. Themenwechsel. Das Wetter geht immer. Und jetzt die Trockenheit. „Der Mais sieht schlimm aus“, findet Frau Platen. „Hier bin ich früher immer mit dem Rad gefahren.“Und ach, „hier wohnt doch...“Der Name fällt ihr nicht gleich ein. Dann doch. „Ich hab’ den neulich noch gesehen. Wird auch nicht jünger.“
Der Bus erreicht das Marienstift. „Hier steigen wir immer aus. Von da laufen wir.“Gudrun Platen ist nach einer Knie-op wieder einigermaßen gut zu Fuß. Diesmal fährt sie weiter. Durch die Großbaustelle Burgstraße. „Was für ein Durcheinander. Die armen Geschäftsleute“, sagt sie. Thomas Hommen hält sich zurück. Als Fdp-ratsherr hätte er bestimmt was dazu zu sagen. Am Bahnhof hat er die zwei Minuten Verspätung vom Anfang wieder eingeholt und wartet. Früher losfahren, als es der Fahrplan ausweist, „geht gar nicht“. Sein Fahrgast interessiert sich für den lang gezogenen Rohbau hinterm DRK-HEIM. „Ach, hier sollen Flüchtlinge rein.“
Inzwischen genießt Gudrun Platen eine Reise in ihre Jugend. Es geht Richtung Borth. Bevor sie Mitte der 50er Jahre nach Menzelen kam, hat sie hier mit ihrem Mann gewohnt, ehe die Kinder kamen. „Das hat sich hier ja alles total verändert“, sagt sie. Erinnerungen werden wach an die Zeit, als der öffentliche Nahverkehr noch ganz anders aufgestellt war: „Mit der Straßenbahn nach Moers und später von der Solvay aus mit dem OBus nach Rheinberg.“Das O steht für Oberleitung. Als junge Frau habe sie bei Underberg in der Produktion gearbeitet, erzählt die 83-Jährige. „Wenn ich abends zu Hause war, hab‘ ich nach Schnaps gerochen.“
Der Fahrer berichtet, dass der Anschluss der Linie ans Rheinberger Netz wohl noch braucht, um ins Rollen zu kommen. Die Fahrt wird hubbelig wegen der Drempel. An der Haltestelle neben der Kirche St. Evermarus hält gerade der Bus des Rheinberger Vereins. Die junge Frau, die an der Haltestelle mit ihrem Handy telefoniert, winkt ab. Sie hat ein anderes Ziel.
Der 83-jährige Fahrgast verharrt in seiner Jugend. „Hier bin ich immer zum Friseur gegangen“, sagt Gudrun Platen auf Höhe des Salons an der Kolkstraße, erkennbar an der Leuchtreklame neben dem Eingang. Auch die ältere Frau, die an der nächsten Haltestelle wartet, steigt nicht zu. „Ich muss nach Wesel.“Umwege sind verboten, erklärt der Mann am Steuer.
Dann geht’s durch Bönning, das erstaunlich dicht besiedelt ist.
„Hier ist endlich die Hecke runtergeschnitten, sodass man an der Ecke was sieht“, sagt Hommen. Beim nächsten Stopp muss er eine Minute warten, wie ihm sein Tablet sagt. „Mit dem Ding muss man erst mal klarkommen“, meint die alte Frau, öffnet ihre Handtasche und holt eine Flasche Wasser raus. „Trinken ist wichtig bei so einer Hitze“, sagt sie. „Tablets sind kein Hexenwerk“, antwortet Hommen und erklärt, dass das Stück Kunststoffrohr im Cockpit die Bargeldkasse ist.
Dann steigt König Fußball zu. An Masten in den Vorgärten wehen Fahnen von Bundesligisten. Hommen hält mit dem FC Kölle, sein Fahrgast mit der rheinischen Borussia. Zeit für Gefrozzel unter Fans, ehe Kommunalpolitik zur Sprache kommt. „Hier entstehen große Kiesseen“, sagt Hommen mit Blick auf staubtrockenen Äcker an der Drüpter Straße. „Immer wieder was Neues“, sagt die 83-Jährige. „Was ist mit Edeka in Menzelen?“, will sie wissen. Das Thema fahre dauernd mit, sagt Hommen. Wann gebaut wird, da muss auch er passen. Das neue Haus der Feuerwehr taucht auf. „Im Dorf war das ja auch viel zu eng“, sagt Gudrun Platen. Dünnes Eis. Der Fahrer schweigt. „Heißt ja heute: Hommen fährt“, sagt er in Anspielung auf seine ewigen Sitzungen vor der alten Wache.
Am Pfarrhaus steigt tatsächlich eine ältere Frau zu. Man kennt sich. Sofort beginnt eine angeregte Unterhaltung. „Lange nicht gesehen.“Die Frauen sprechen übers Wetter. Auf dem Friedhof sei’s okay gewesen. Das Grab, das sie besucht hat, liege im Schatten unter einem großen Baum, erzählt die Frau, die beim Einsteigen ihr Neun-euro-ticket vorgezeigt hat. Und sie erzählt, dass ihre Friseurin die Termine für sie an den Fahrplan des Bürgerbusses angepasst hat.
Gudrun Platen ist nach gut einer Stunde wieder an ihrer Haustür, sichtlich zufrieden. „Ich fahr‘ noch öfter“, sagt sie und bedankt sich beim Fahrer für die unterhaltsame Reise. „Tschüss, bis Dienstag.“Wahrscheinlich sitzt dann ein anderer Mann am Steuer. Möglicherweise Klaus van Bebber – ihr Schwiegersohn fährt auch Bürgerbus.