Erdogan kämpft gegen Atatürks Mythos
Heute beginnt in Deutschland die Abstimmung zum türkischen Referendum. Die Gegner berufen sich auf den Staatsgründer.
ISTANBUL Wahlurnen in Konsulaten, Botschaften und Flughäfen: Außerhalb der Türkei beginnt heute die Stimmabgabe für das türkische Verfassungsreferendum am 16. April. Allein in Deutschland sind mehr als eine Million türkische Staatsbürger stimmberechtigt und können an 13 Standorten ihr Votum für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems abgeben. Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan geht zwar als haushoher Favorit in die Wahl – die Opposition ist schwach. Doch Erdogan kämpft nicht nur gegen regierungskritische Parteien – aus Sicht mancher Beobachter ringt er auch mit dem Erbe des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.
Der 1938 verstorbene Atatürk hatte die Republik auf den Trümmern des untergegangenen Osmanischen Reiches errichtet und den neuen Staat mit nicht immer demokratischen Mitteln auf Westkurs gebracht. Der Islam-Gegner Atatürk verlegte den freien Tag der Woche vom muslimischen Freitag auf den westlichen Sonntag, ersetzte die arabische Schrift durch die lateinische und importierte europäische Gesetze. Atatürk duldete keine Opposition; erst nach seinem Tod wurde das Mehrparteien-System eingeführt. Seine politischen Erben, die sich nach seinem Vornamen Kemalisten nennen, ließen das Erbe Atatürks zu einer rigiden Staatsideologie erstarren, die selbst friedliche Vertreter der Kurden und des politischen Islam ausgrenzte. Unter der Herrschaft der Kemalisten wurde das Militär zum obersten Wächter über den Staat und drängte zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierungen aus dem Amt.
Erdogan machte sich als Repräsentant der kleinbürgerlich-frommen Anatolier einen Namen, die gegen die Vorherrschaft der Kemalisten aufbegehrten. Im Laufe seiner Regierungszeit hat Erdogan den Einfluss der Militärs auf die Politik beendet und in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft eine neue Elite aus frommen Muslimen nach oben gebracht. Nun schickt er sich an, mit der Einführung der Präsidialrepublik das Werk zu vollenden.
Doch der Schatten Atatürks ist lang. Vor dem Referendum wird der Staatsgründer für viele ErdoganGegner posthum zum Hoffnungsträger. Im westtürkischen Manisa stürmten vor einigen Tagen mehrere Dutzend Gymnasiasten aus Protest aus einer Veranstaltung, bei der Erdogans Sohn Bilal für das Verfassungsreferendum warb. Als sie den Saal verließen, sangen die Oberschüler ein Lied, in dem sie Atatürk hochleben ließen.
Auch im Wahlkampf, in dem die Opposition die geplante Präsidialrepublik als Ein-Mann-System ablehnt, spielt Atatürk eine Rolle. Erdogan kontert den „Ein Mann“-Vorwurf seiner Gegner mit dem Hinweis auf Atatürks autokratischen Regierungsstil und sagt, auch der Staatsgründer habe seinerzeit ganz allein das Sagen gehabt.
Die von Atatürk gegründete Kemalisten-Partei CHP wertet das als Angriff auf ihr Idol: Atatürk habe stets die Nation als oberste Instanz betrachtet und einen Ein-MannStaat abgelehnt, sagte der CHP-Veteran Deniz Baykal kürzlich. Dagegen wolle Erdogan einen Staat, in dem alles auf ihn selbst zugeschnitten sei, sagte Baykal.
Dabei gleichen sich Erdogan und Atatürk in einem wichtigen Punkt: Beide befriedigen die Sehnsucht vieler Türken nach einem starken Mann an der Spitze des Staates, nach einer strengen, aber gerechten politischen Vaterfigur. Manche seiner Anhänger sehen in Erdogan einen zweiten Atatürk. Doch ob die Türken ihrem Staatschef bei der Abstimmung im April folgen werden, ist nicht sicher.
Ende der vergangenen Woche äußerte sich Erdogan erstmals öffentlich zur Möglichkeit eines Scheiterns beim Referendum. Die Entscheidung liege bei den Wählern, sagte er in einem TV-Interview. „Wenn sie sagen: ‚Ungeeignet‘, kann man nichts machen.“Hinter verschlossenen Türen soll sich Erdogan in den vergangenen Tagen sehr unzufrieden mit der Stimmung bei den Wählern im Kurdengebiet gezeigt haben, wo die Unterstützung für den Präsidentenplan angeblich unter 40 Prozent liegt. Der frühere AKP-Umweltminister Idris Güllüce sagte der Zeitung „Karar“, auch in der 15-Millionen-Metropole Istanbul überwiege die Ablehnung.