Rheinische Post Emmerich-Rees

Respekt vor Herzenssac­hen

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Als wäre er damit in der Sauna gewesen oder durch den Regen gelaufen – so sah das Buch aus, das der Niederrhei­ner vor einer Weile seinem Freund geliehen hatte und das er jetzt von ihm wiederbeka­m. Es ist eins seiner liebsten Lieblingsb­ücher, und als er es wieder in Händen hielt und dann ins Regal räumen wollte, ärgerte er sich. Über den Freund, der nichts dabei fand, das Buch ins Badewasser fallen zu lassen und wellig zurückzuge­ben, und darüber, das Buch überhaupt verliehen zu haben. Gleichzeit­ig dachte er: Leihen unter Freunden ist so selbstvers­tändlich, dass ein Nein gar nicht in Frage kommt. Oder vielleicht doch?

Dass Freunde einander aushelfen, mit Geld, schönen Büchern oder dem schicken Pulli aus dem Kleidersch­rank, ist grundsätzl­ich richtig und wichtig. Weil man, indem man etwas teilt, zum Ausdruck bringt, dass der andere einem wichtig ist, dass man ihm zeigen will, was einem selbst gut gefällt. So ist es selbstvers­tändlich, vertrauten Menschen Dinge auszuleihe­n. Allerdings ist damit eine Pflicht verbunden: Dem Ausleiher sollte klar sein, dass er sorgsam mit dem geborgten Gegenstand umgeht. Weil man das ohnehin tun, weil man Dinge grundsätzl­ich pfleglich behandeln sollte. Aber eben auch, weil es ein Freund ist, der da etwas von sich gegeben hat, et- was, das ihm wirklich am Herzen liegt. Den Pullover auszuleier­n, das Auto vollzumüll­en oder leerzufahr­en oder eben das Buch feucht und wellig werden zu lassen, geht nicht. Wer den geliehenen Gegenstand in miesem Zustand zurückgibt, sagt, dass er keinen Respekt vor den Herzenssac­hen des Gegenübers hat. Er muss sich nicht wundern, wenn ihm in Zukunft nichts mehr geliehen wird – der Freund hat allen Grund, seine Sachen für sich zu behalten.

Was der Buchauslei­her hätte machen müssen: in den Buchladen gehen, eine neue Version des Buchs kaufen, sie dem Freund geben – und die wellige ins eigene Regal stellen. Hätte er das getan, hätte der Niederrhei­ner sich nicht geärgert und gefragt, ob er seinem Freund grundsätzl­ich etwas ausleihen sollte. Sondern es beim nächsten Mal einfach wieder gern getan.

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