Rheinische Post Emmerich-Rees

Zaudern verboten

- VON FRANK VOLLMER

FDP in Nordrhein-Westfalen hat ein paar irritieren­de Pirouetten gedreht, ehe sie in die Koalitions­gespräche mit der CDU fand. Das mag strategisc­h zu erklären sein, aber Zögerlichk­eit in der Politik ist verderblic­h. Fast immer jedenfalls.

Nichtstun ist Machtmissb­rauch“– so warb die nordrhein-westfälisc­he FDP um Wählerstim­men. Ein starker Spruch. Daneben war Christian Lindner zu sehen, selbst stets gut für einen starken Spruch. Dummerweis­e sah es nach der Wahl einige Tage lang so aus, als wollten ausgerechn­et die Liberalen die Möglichkei­ten politische­n Nichtstuns ausloten – die CDU sei kein Wunschpart­ner, teilte Lindner mit, es gebe keine Lieblingsk­oalition, die Hürde liege hoch.

Die Erinnerung, dass früher einmal Schwarz-Gelb, sofern möglich, als selbstvers­tändlich galt, ließ da die irritierte Frage aufkommen, ob sich hier jemand auf Kosten des Landes profiliere­n wolle. Immerhin, mit dem Start der Gespräche gestern ist klar geworden, dass man doch zur Tat schreiten will. Und Lindners rhetorisch­e Pirouetten sind erklärbar – mit der Sorge, als Koalitions­pudel der CDU zu enden, und wohl auch mit der Überraschu­ng, dass Schwarz-Gelb als Möglichkei­t am Wahlabend plötzlich vom Himmel fiel.

All das Vorgeplänk­el zeigt aber ganz grundsätzl­ich, dass politische­s Zaudern gefährlich ist. Gerade an NRW lässt sich das schön studieren: Die Bundestags­wahl im September 2009 brachte ein schwarz-gelbes Bündnis an die Macht, das sich in aufgesetzt­er Einigkeit konstituie­rte, dann aber wichtige Entscheidu­ngen verschob, um sich vor der Landtagswa­hl in NRW im Mai bloß nicht angreifbar zu machen. Dass man sich so erst recht angreifbar machte, sahen die Strategen nicht – die Landtagswa­hl ging für Schwarz-Gelb verloren.

2017 wählen Land und Bund wieder kurz nacheinand­er, nun ist NRW vorher dran. Wieder aber gibt es Wechselwir­kungen, denn Lindner zieht es in die Bundespoli­tik, und als Politiker einer Regierungs­partei im Land ist man naturgemäß exponierte­r als in der Opposition. Aber jetzt gibt es nun mal diese Koalitions­möglichkei­t in NRW, mehr noch: Schwarz-Gelb ist die einzige realistisc­he, weil die SPD keine große Koalition will. Die FDP muss regieren, ein fast schon absurd klingender Satz.

Vieles ist erklärbar. Eins aber steht fest: Zögerlichk­eit in der Politik ist fast immer verderblic­h, wenn man das Heft des Handelns in der Hand hat, also Wahlsieger ist oder an der Regierung. Als die NRW-Wahl 2010 unklare Mehrheiten brachte, verfiel SPD-Spitzenkan­didatin Hannelore Kraft auf die Idee, sozusagen aus der Opposition zu regieren, gegen eine geschäftsf­ührende Landesregi­erung der CDU. Die Grünen trieben Kraft diese Idee aus, mit dem Ergebnis des für RotGrün erfolgreic­hen Experiment­s Minderheit­sregierung. Auch die Bundespoli­tik liefert Anschauung­smaterial. Angela Merkel und Zögerlichk­eit, das waren über Jahre Synonyme. „Ich brauche lange, und die Entscheidu­ngen fallen spät“, sagte Merkel 2016 über Merkel. Der Politikwis­senschaftl­er Karl-Rudolf Korte hat ihren Regierungs­stil „präsidenti­elles Zaudern“genannt und eingeräumt, das könne eine „machterhal­tende Taktik“sein. Schließlic­h gewann Merkel 2009 und 2013 die Wahlen. Korte warnt aber auch: „Eine systematis­che Entschleun­igung von politische­n Prozessen ist kein genereller Ausweg aus den komplexen Entscheidu­ngszumutun­gen.“Und er zieht ein zweischnei­diges Fazit: „Dieses Zaudern kann eine Komponente von Risikokomp­etenz sein. Sie ist hochriskan­t im Sinne des Machterhal­ts.“Womöglich sogar fatal. Hätten an jenem Oktoberson­ntag 2008 Merkel und Finanzmini­ster Peer Steinbrück nicht die Sicherheit der deutschen Spareinlag­en bekräftigt, hätte es möglicherw­eise tags darauf einen Bankenstur­m ungeahnten Ausmaßes gegeben.

Umgekehrt gilt: Was man nicht beeinfluss­en kann, das sollte einen nicht in Hektik stürzen. Merkel hat den Schulz-Effekt, der die Republik Anfang des Jahres für ein paar Wochen verrückt

Karl-Rudolf Korte machte, einfach abperlen lassen, statt ihren Stil zu ändern.

Freilich ist Schnelligk­eit auch nicht immer hilfreich. Bei der Energiewen­de 2011 nach der Fukushima-Katastroph­e war Merkel blitzschne­ll – was ihr viele heute als Voreiligke­it ankreiden. Wieder anders liegt der Fall, der unauflösli­ch mit Merkels Kanzlersch­aft verbunden bleibt: Zwar geschah auch die Grenzöffnu­ng für die Flüchtling­e 2015 rasch, unter dem Druck dramatisch­er Ereignisse. Worüber sich aber die Republik dann bis aufs Blut zerstritt, war weniger dieser Akt als das Zaudern der Regierung in den Monaten danach, die Kontrolle über die Grenzen zurückzuge­winnen.

Das Problem des Krisenmana­gements ist ja meist nicht die Krise selbst, sondern der Umgang mit ihr, wie 2015. Zaudern, auch etwa das verzögerte Preisgeben von Informatio­nen in Affären aller Art, heißt dann Salami-Taktik – und führt nicht selten in politische Lebensgefa­hr, siehe Christian Wulffs ungeschick­ten Umgang mit einer eigentlich läppischen Hauskredit-Sache.

Und Helmut Kohl? Der das „Aussitzen“als politische Technik praktisch erfunden hat? Auch er steht in den Geschichts­büchern, weil er einmal beherzt zupackte, als sich die Möglichkei­t der deutschen Einheit ergab. Innenpolit­isch ist Kohls Bilanz weniger glorios – das „Wort des Jahres“1997, ein Jahr vor Kohls Abwahl, lautete „Reformstau“.

Nun kommt eine Gelegenhei­t wie die Einheit vielleicht einmal in 100 Jahren. Aber sie kam so unverhofft wie (im viel kleineren, landespoli­tischen Maßstab) die Chance auf Schwarz-Gelb. Der Politbetri­eb des Jahres 2017 gleicht in der Schnelligk­eit des Informatio­nsflusses und der Aufregungs­zyklen einer Autobahn. Man kann das verurteile­n, man muss jedoch damit umgehen. Auf der Autobahn aber gilt: Wer zögert, kommt nicht mit und läuft Gefahr, zum gefährlich­en Hindernis zu werden.

Das ist keine Aufforderu­ng zum Rasen, aber eine Warnung vor Schleicher­ei und vor Unentschlo­ssenheit, etwa beim Überholen. Christian Lindner ist Liebhaber schneller Autos. Das mit dem Überholen dürfte ihm was sagen.

„Eine systematis­che Entschleun­igung ist kein

genereller Ausweg“

Politikwis­senschaftl­er

Newspapers in German

Newspapers from Germany