Rheinische Post Emmerich-Rees

Holland in Not

- VON PHILIPP JACOBS

126 Tagen laufen in den Niederland­en die Koalitions­verhandlun­gen. Mittlerwei­le gibt es auch nur noch ein logisches Bündnis. Doch das hat sich bisher nicht zusammenge­rauft. Wo liegen die Probleme?

DEN HAAG Der niederländ­ische Politikbet­rieb gilt als internatio­nal geachtetes Laboratori­um. Doch trotz der Experiment­ierfreude, die dort an den Tag gelegt wird, schätzen die Abgeordnet­en Traditione­n. An jedem dritten Dienstag im September findet zum Beispiel im Rittersaal im Den Haager Regierungs­viertel der Prinzentag statt. Das Staatsober­haupt, derzeit König Willem-Alexander, fährt mit einer goldenen Kutsche vor, und der niederländ­ische Finanzmini­ster trägt einen Koffer bei sich, der die Aufschrift „Dritter Dienstag im September“trägt. In dem Koffer befindet sich die „Miljoenenn­ota“, der Haushaltsp­lan für das kommende Jahr, über den das Parlament nach der Thronrede des Königs debattiert.

In diesem Jahr wird es allerdings höchstwahr­scheinlich einen Bruch in der Tradition geben – und der hat mit den schleppend­en Koalitions­verhandlun­gen zu tun. Denn für gewöhnlich stellt nach einer Wahl die neue Regierung auch den neuen Haushaltsp­lan vor. Ob es aber bis zum 19. September eine neue Regierung geben wird, ist äußerst fraglich. Und selbst wenn dem so wäre, bleibt nicht viel Zeit für ein frisches Finanzkonz­ept.

Seit nun 126 Tagen laufen die Sondierung­sgespräche. Premier Mark Rutte ging mit seiner rechtslibe­ralen Volks- partei (VVD) Mitte März als Sieger aus der Wahl hervor. Die VVD kommt auf 33 der 150 Sitze im Parlament (minus acht). Eine extrem zersplitte­rte Parteienla­ndschaft zwingt Rutte jedoch in eine Koalition mit mindestens drei Partnern. Die Gespräche begannen zwischen der VVD, der christdemo­kratischen CDA, der linksliber­alen D66 und Grün-Links unter dem 31-jährigen Shootingst­ar Jesse Klaver. Die VVD-Abgeordnet­e Edith Schippers wurde zur Verhandlun­gsführerin ernannt, zum „Informateu­r“. Doch trotz anfänglich­er Euphorie musste sie nach einigen Wochen eingestehe­n: Es geht nicht weiter. Die Verhandlun­gen waren festgefahr­en.

Grund dafür war die Flüchtling­spolitik. VVD und CDA plädieren für eine moderate Abschottun­g und wollen den EU-Flüchtling­sdeal mit der Türkei auf Nordafrika ausweiten. Davon hält Klaver überhaupt nichts. Er vertritt eine Willkommen­spolitik, von der er partout nicht abweicht. „Klaver hält an seinen Prinzipien fest und stellt sie sogar über eine mögliche Regierungs­beteiligun­g“, sagt Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederland­e-Studien an der Universitä­t Münster. Diese Taktik habe jedoch zusätzlich mit Skepsis zu tun, meint Wielenga: „Regieren bedeutet auch verlieren. Klaver hat gesehen, was mit anderen Parteien, insbesonde­re mit der PvdA, passiert, wenn diese zu sehr von ihren Prinzipien abweichen und zu viele Kompromiss­e mit konservati­ven Parteien eingehen.“Die sozialdemo­kratische PvdA, Ruttes ehemaliger Koalitions­partner, erlitt bei der Wahl eine herbe Pleite: Die Partei verlor drei Viertel ihrer Sitze. Ein derartiges Schicksal will Klaver nicht erleben. Mitte Juni hieß es darum: keine neuen Verhandlun­gen mit Grün-Links.

An Klavers Stelle rückte Gert-Jan Segers mit seiner Christenun­ion (CU). Eine Koalition aus VVD, D66, CDA und CU gilt nun als die wahrschein­lichste Variante, aber auch als die einzig verblieben­e. Die restlichen Parteien sind entweder zu klein, oder ihre Gesinnunge­n passen nicht in den festen Verbund von VVD, D66 und CDA. Die rechtspopu­listische PVV von Geert Wilders ist bei der Wahl zwar zweitstärk­ste Kraft geworden, doch eine Zusammenar­beit mit ihr schließen die meisten aus. Die Christenun­ion muss nun einfach irgendwie passen. Das neue Bündnis hätte eine Mehrheit von genau einem Sitz.

An der Zusammenfü­hrung von VVD, D66, CDA und CU hat sich mittlerwei­le aber auch der zweite Informateu­r Tjeenk Willink (PvdA) die Zähne ausgebisse­n. Richten soll es jetzt Ex-Finanzmini­ster Gerrit Zalm (VVD). Dieser verglich die Verhandlun­gen zuletzt mit der Tour de France: „Wir haben schon einige Bergetappe­n hinter uns, aber wir sind sicher noch nicht in Paris.“Zalm muss die Parteien vor allem bei folgenden Streitpunk­ten einen: Arbeitsmar­kt Die Koalition in spe will einige Bereiche reformiere­n, so etwa das Kündigungs­recht, den Versicheru­ngsschutz von Freiberufl­ern oder das System der Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall. Dafür setzt man auf eine Übereinkun­ft mit den Arbeitgebe­rverbänden und den Gewerkscha­ften. Doch die sind bisher skeptisch gegenüber einer rechtslibe­ralen Regierung. Klima VVD und CDA unterstütz­en zwar das Pariser Klimaabkom­men, doch wollen beide Parteien die darin vorgesehen­en Schritte nicht so rasch umsetzen. CU und D66 wiederum wollen bei dem Thema aufs Gas treten. Migration Auch ohne Grün-Links ist die Einwanderu­ngspolitik ein heikles Thema. Die CU dringt auf neue Verhandlun­gen. Zusammen mit Mark Rutte arbeitet Gert-Jan Segers deshalb an einem Kompromiss­vorschlag. Sterbehilf­e Soll jeder selbst über sein Schicksal entscheide­n können? Die Niederland­e vertreten in der Frage eine sehr liberale Politik. D66 möchte es allen Menschen ab 75 Jahren ermögliche­n, ihr Leben auf Wunsch von einem Arzt beenden zu lassen – auch wenn sie nicht krank sind. VVD und CU sind in der Sache konservati­ver eingestell­t. Die niederländ­ische Zeitung „Volkskrant“griff die zähen Verhandlun­gen kürzlich in einer Glosse auf: Man solle VVD, CDA, D66 und CU doch in ein Hotel einquartie­ren, dort könnten die Beteiligte­n vier Jahre lang bis zur nächsten Wahl durchverha­ndeln. Die Wirtschaft boome, warum also nicht einfach mit der alten Regierung weitermach­en, fragte der Autor.

„Ich glaube nicht, dass wir den Rekord von 1977 brechen“, sagt Friso Wielenga, „aber wir kommen nah dran.“Erst nach 208 Tagen stand damals eine Regierung. Es könnte also noch etwas dauern, bis Informateu­r Zalm endlich in Paris ankommt. Vor ihrer nächsten Bergetappe haben sich die Parteien jetzt aber erst einmal für zwei Wochen in den Urlaub verabschie­det – darüber war man sich übrigens schnell einig.

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