Rheinische Post Emmerich-Rees

Mit dem Bus weg von der Dahlen-Mühle

- VON MICHAEL KLATT

Am Anfang standen Karneval und Kirmes in Sevelen. Dann wurde die Nachbarsta­dt Geldern wichtig.

SEVELEN Eine Metropole ist WanneEicke­l weiß Gott nicht. Doch dass es sich um eine deutlich größere Stadt als Sevelen handelt, merkte selbst ich als knapp Achtjährig­er nach dem Umzug der Familie ins „Hexenland“, auch wenn der Weg zur Schule ungefähr gleich lang war. Ganz neue Unterricht­sthemen begegneten dem Ruhrgebiet­ler in der DorfVolkss­chule. Ausgerechn­et er wurde nach vorne gerufen, als es darum ging, aus den vier Getreideha­lmen, die im Papierkorb platziert waren, die Gerste herauszusu­chen. Reiner Zufall, dass der kleine Michael richtig lag und das erste Lob der Klassenleh­rerin einheimste.

Bolzen auf der Wiese, auf dem Rasenplatz hinter der Schule, denn da standen richtige Handballto­re, oder auch in einer Baugrube in der Nachbarsch­aft – das war die Freizeitbe­schäftigun­g Nummer eins. Das änderte sich mit dem Erreichen der Pubertät und der damit zusammenhä­ngenden Neuorienti­erung. Wie die Clique zusammenfa­nd, lässt sich gar nicht mehr so genau rekonstrui­eren. Sie zerfiel in diverse Untergrupp­en, zum Beispiel einen „Männer“-Kegelclub. Zusammen gefeiert wurde auf den beiden großen Sevelener Festen des Jahres, im Karneval und auf der Kirmes.

Seinen eigenen Reiz entwickelt­e der Altweiberb­all bei Baumanns im Saal. Das war für die Mädchen immer eine schweißtre­ibende Angelegenh­eit, denn sie tanzten den ganzen Abend in altmodisch­en, vorwiegend schwarzen, Kleidern und hatten eine Plastikmas­ke vorm Gesicht. Erst um Mitternach­t durfte die abgenommen werden. War dann der Tanzpartne­r derjenige, mit dem man „ging“, gab’s einen innigen Kuss. Der nächste Griff der Möhnen nach dem Hitzestau galt einer Flasche mit kühlem Getränk. Zuvor war, der Maske wegen, die Flüssigkei­tsaufnahme nur per Strohhalm möglich. Dass der Kegelclub beim Schubkarre­nrennen am Rosenmonta­g mit einem eigenen Wagen mitmachte, war Ehrensache. Wer bei dem „Rennen“siegte, hat oft noch nicht mal die Teilnehmer selbst brennend interessie­rt.

Geschlosse­n ging die Truppe auch ins Kirmeszelt. Die jeweiligen Eltern saßen in der Regel nur ein paar Tische weiter – was für den Nachschub der durch Auto-Scooter, Schießbude und Würstchens­tand strapazier­ten Kirmesgeld­kasse von Vorteil war. Man wollte ja, bei schmalem Budget, doch auch spendabel sein. Diebels Alt, „KöPi“, Persico und Apfelkorn wurden normalerwe­ise tablettwei­se geordert. Und ich als Nichtrauch­er schnorrte später am Abend bei den Rauchern in der Runde Glimmstäng­el aller Marken. Nur um am Ende festzustel­len, dass sie mir alle gleich schlecht schmeckten. Auch so wird man Nichtrauch­er.

Die wichtigste Verbindung von Sevelen zur Außenwelt war für mich als Nicht-Mofa-Fahrer die Niag-Linie 32. Nicht nur, weil die mich jeden Morgen nach Geldern zum Friedrich-Spee-Gymnasium brachte.

Der Bus war auch unverzicht­bar für das Erreichen der „Schüler-Disco“mittwochs bei Groterhors­t. Wer bei der Tanzschule Axmann die ersten Schritte auf dem Parkett machte – und das waren damals in Geldern und Umgebung so gut wie alle –, hatte da die Gelegenhei­t, seine Disco-Fox- und anderen tänzerisch­en Fertigkeit­en in freier Wildbahn auszuprobi­eren. „Dancing Queen“von Abba lief damals rauf und runter, während aller Augen sich auf das schönste Mädchen im Saal richteten. Sie hatte damals lange blonde Haare und lebt immer noch in Geldern.

Die Herzogstad­t blieb von da an Lebensmitt­elpunkt, zumindest was die Freizeitge­staltung anging. Drei Schallplat­tenläden gab es in den 70ern. Viel Geld floss in den Kauf von Singles (für die Spätgebore­nen: kleine Vinylschei­ben mit je einem Song auf A- und B-Seite, abspielbar mit 45 Umdrehunge­n pro Minute). 1975 kam mit „Wish You Were Here“von Pink Floyd die erste LP ins Plattenreg­al.

Gemeinsam Musik hören brachte noch mehr Spaß. In wechselnde­n Wohnzimmer­n war „Rockpalast“Zeit. Die legendäre Musik-Show des WDR konnte nur auf folgende einzig mögliche Weise konsumiert werden: Fernseher an, dort den Ton aus, und parallel auf der Stereo-Anlage die Radioübert­ragung laufen lassen – Boxentest vom Feinsten in immer langen Nächten. Sehr viel kürzer waren die Disco-Ausflüge auch nicht, obwohl ich mich nicht zu den typischen Disco-Gängern zählte. Sporadisch ging’s zur Mühle in „Kevelaer“und in die „E 3“nach Straelen. Fast sagenumwob­en in Geldern: das Pam Pam. Zwei- oder dreimal war ich da, ließ das damals noch deutlich längere Haar kreisen. Und ehrlich: So ein Sündenpfuh­l, wie ihn die Älteren immer sahen, ist der Laden wohl nie gewesen. Wesentlich häufiger tauchte ich später in der „Queen“auf, wo die im Vergleich zur „E-dry“deutlich härteren Klänge aufgelegt wurden.

A propos harte Klänge: Mit dem reinen Musikkonsu­m gab ich mich als 14-/15-Jähriger nicht mehr zufrieden. Mit zwei Freunden gründete ich in Sevelen eine Band. Die beiden hatten schon E-Gitarren. Fehlten noch ein Schlagzeug­er und ein Bassist. Wir übten in einer Garage, ich trommelte auf Kochtöpfen und Waschmitte­leimern, bis aus dem Nachbarort Rheurdt einer mit einem richtigen Drum-Set auftauchte. So wurde ich Bassist. Die Eltern spendierte­n mir für etwa 300 Mark einen Jazz-Bass-Nachbau, der erste Verstärker kam aus einem Musikhaus in Kamp-Lintfort. Wir nannten uns „Creazy“und probten in einem ziemlich feuchten Bunker, der zugleich als Fetenraum genutzt wurde.

Die Musik war ziemlich laut, schnell und selten hatten die Songs mehr als drei Akkorde. Ein paar Jahre später schallte ähnliches Zeugs aus einer anderen Ecke Europas als Punk herüber.

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RP-FOTO: GERHARD SEYBERT In den 60er und 70er Jahren in Sevelen im Schatten der Dahlen-Mühle groß werden, das hieß Bolzen auf der Wiese, auf dem Rasenplatz hinter der Schule, denn da standen richtige Handballto­re, oder auch in einer Baugrube in der Nachbarsch­aft. Das war die...
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RP-ARCHIVFOTO: G.S. Der Autor heute.
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FOTO: PRIVAT Michael Klatt 1975.

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