Gewaltmarsch ins Glück
100 Kilometer in 24 Stunden, zu Fuß – Pascal Grais sagt, die Extremwanderung habe sein Leben verändert.
BERLIN Die Sonne brennt bei mehr als 30 Grad, die Füße schmerzen, der Rucksack scheint tonnenschwer, und Pascal Grais ist genervt vom Zuspruch seiner Freunde. Die SMS und Whats-App-Nachrichten freuen und rühren ihn, vor allem aber lenken sie ihn ab. „Bitte schreibt nicht mehr“, tippt er und konzentriert sich dann wieder auf seinen Rhythmus, das Atmen und Gehen.
Der 36-Jährige, der sonst in Niederbayern einen Gabelstapler steuert, schwitzt nun östlich von Berlin seine Klamotten durch, setzt ein Bein vor das andere, läuft vorbei am Müggelsee und an übermotivierten Extremsportlern, die ihn zuvor feixend überholt hatten. Läuft und läuft und läuft. Langsam, aber sicher. Das Ziel: 100 Kilometer in 24 Stunden.
Extremwanderungen sind der jüngste Auswuchs des WanderBooms, das ganze Jahr über können angeblich „Normalsportliche“nach einigen längeren Trainingsmärschen ihre Grenzen testen: Im Januar lockt die „Berliner Polarnacht“(2 x 50 Kilometer), im November die „Borgsdorfer Nelke“(bis zu 100 Kilometer), dazwischen unter anderem „Dein Ostseeweg“(100 Kilometer), der „Bödefelder Höllenmarsch“(bis zu 111 Kilometer) sowie „Extrem Extrem Edersee“(159 Kilometer, 3700 Höhenmeter). Am 9. September startet in Wuppertal der „Mammutmarsch“, nur zwei Wochen später in Köln der „Megamarsch“. Jeder Vierte kommt durch.
„Wahnsinn“, war Grais’ erster Gedanke, als er vor zwei Jahren hörte, dass Menschen das versuchen, diese Distanz, in dieser Zeit, ohne Schlaf. „Bescheuert. Ein Ding der Unmöglichkeit.“Er selbst lebte nach einem schweren Motorradunfall mehr als ungesund, stopfte Fastfood in sich hinein, rauchte 60 Zigaretten am Tag, bewegte sich nie mehr, als er musste. „Ich war eine faule Sau.“Der Letzte, dem irgendjemand zutrauen würde, 100 Kilometer zu Fuß zurückzulegen.
Für seine erste Fünf-KilometerWanderung braucht er eine Stunde, danach steht er kurz vorm Kollaps. Doch der Ehrgeiz ist erwacht. Also geht er wandern, dreimal pro Woche. Obwohl Freunde raten, er solle doch tauchen gehen, radfahren oder notfalls auch golfen, cooler als wandern sei ja schließlich alles.
Zehn Minuten vor Beginn des Jahres 2017 drückt er seine letzte Zigarette aus. Aus den zehn Kilometern werden 20, 30, 40, 50. „Dabei habe ich gespürt, wie ich gesünder wurde, kräftiger, ausdauernder.“Also entscheidet er, den „Mammutmarsch“zu absolvieren, 100 Kilometer durch das Berliner Umland. Grais lebt 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Mainburg bei Landshut, Niederbayern, im größten Hopfenanbaugebiet der Welt. Dass ihn mancher schief anschaut, seit er statt zum Bier zu Was- ser oder Saft greift, spornt ihn nur an: „Ich bin ein extremer Sturkopf.“
Und weil der Tätowierer seines Vertrauens nur einmal im Jahr zur örtlichen Tattoo-Messe greifbar ist, ziert Grais‘ rechte Wade schon Wochen vor dem Start ein Wanderer im Wald samt „Mammutmarsch“Logo. „Weil allein der Entschluss zur Teilnahme mein Leben verändert hat.“Zudem ist es ein Grund mehr, die 100 Kilometer durchzuziehen.
Am 27. Mai um halb vier nachmittags geht es für Grais und die 1200 anderen Teilnehmer los: Zunächst macht es richtig Spaß, das gemeinsame Gehen durch Berliner Vororte, Wälder, Felder. Kurz vor der Halbzeit gibt sein Bruder auf. Die vielleicht schwersten 30 Kilometer läuft er ganz allein durch die Nacht, die bald nur noch kalt ist. Sein Wille bekommt Risse. Aber gegen fünf Uhr geht die Sonne auf, ein magischer Moment: „Es wird heller und wärmer, das ist unglaublich. Die Vögel fangen an zu zwitschern, und du siehst wieder, wo du hinläufst.“Für Grais ein Anstoß: „Wie viele Sonnenaufgänge verpassen wir sonst? Fast alle.“Bei Kilometer 83 wünscht er sich die Kühle zurück. „Immer noch Sonne, Sonne, Sonne“, flucht er in einem Video bei YouTube. „Das Knie tut weh ohne Ende, aber ich hab’ mich schon daran gewöhnt. Die Füße machen ihren Job, die gehen einfach.“Und die Pulsuhr ist im grünen Bereich. Also weiter.
Kilometer 96, 97, 98, 99. Unbarmherzig brennt die Sonne auf das Brandenburger Land, Grais läuft wie durch Treibsand. Hunger spürt er so wenig wie die vier Blutblasen an seinen Füßen, die er später entdecken wird. Er hat nur zwei, drei Riegel gegessen und ein paar Bananen, aber das Wasser ist ihm ausgegangen. „Man hätte mich fragen können, wie ich heiße“, sagt er heute, „ich glaube, ich hätte es nicht sagen können.“Seine Freundin Nadine läuft ihm entgegen, gemeinsam überqueren sie die Ziellinie. Als einer von 280 Wanderern kommt er an, nimmt mechanisch Glückwünsche entgegen, führt Gespräche, an die er sich nicht erinnern kann.
Aber die 100 Kilometer sind geschafft, 150.000 Schritte in 23 Stunden und 43 Minuten. 9294 Kilokalorien habe er dabei verbrannt, meldet der Taschencomputer. Das alles beherrschende Gefühl? „Unglaubliche Erleichterung.“Die Freude und der Stolz kommen erst danach, aber sie kommen mit Wucht, halten ihnnoch zehn Stunden lang wach und wirken bis heute nach.
Warum ihn gerade diese Herausforderung so gereizt hat, ist ihm selbst ein Rätsel. Der Bergsteiger George Mallory sagte auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle: „Weil er da ist.“Diese Obsession kostete ihn das Leben. Pascal Grais wird der Sport nicht ins Grab bringen. Seit einiger Zeit besitzt er einen eigenen Kühlschrank, bis zum Rand gefüllt mit Schonkost. Er läuft fast alle Strecken zu Fuß, und ist ein glücklicherer Mensch.