Rheinische Post Emmerich-Rees

Märchen von Theater und Revolution

- VON MATTHIAS GRASS

Die Sommerauss­tellung im Klever Museum Kurhaus „Inside Intensity“zeigt verschiede­ne Positionen der Gegenwarts­kunst. Einige davon stellen wir in einer Reihe vor. Heute: die Zeichnunge­n des Kanadiers Marcel Dzama.

KLEVE Der Kampf der Zerstörung­swut gegen die Kreativitä­t: wer von beiden leistet das „Unglaublic­hste“? Hans Christian Andersens gleichnami­ges Märchen erzählt die Geschichte des jungen unbedarfte­n Künstlers, der dieses unglaublic­hste Ding schafft: eine Uhr, die zu jeder Stunde bewegte Bilder erzeugt, die ihre jeweilige Geschichte erzählen. Von Moses mit seinen Gesetzesta­feln über Adam und Eva bis zum Nachtwächt­er mit Morgenster­n um Mitternach­t. Klar, dass dem netten jungen Mann, der – ganz Andersen – auch noch seinen armen Eltern hilft, die für das „Unglaublic­hste“versproche­ne Königstoch­ter und ein halbes Königreich zustehen.

Doch dann kommt ein grober Kerl daher und zertrümmer­t mit einer Axt die Uhr. Es sei nicht das Unglaublic­hste, eine solche Uhr zu erschaffen, es sei viel unglaublic­her, sie zu zerstören, sagt er. Die Richter geben ihm recht und verspreche­n ihm die Königstoch­ter und das halbe Reich. Aber als der grobe Mann mit der Schönen vermählt werden soll, stehen alle mechanisch­en Figuren wieder auf und klagen ihn an. Eine nach der anderen. Der Nachtwächt­er erschlägt zuletzt den groben Mann: Die Zerstörung der Uhr ist damit gerächt.

Es scheint der alptraumha­fte Moment zu sein, als die wiedererst­andenen Figuren aufmarschi­eren, um die Zerstörung des Werkes zu rächen, den Marcel Dzama in den Mittelpunk­t seiner großen Zeichnung „The Beautiful Losers“(die schönen Verlierer) gestellt hat. Der bühnenbild­artige Gesamteind­ruck des Bildes sei nicht so ganz zufällig, sagt Kleves Museumsdir­ektor Prof. Harald Kunde mit Blick auf das drei mal zwei Meter große Bild, das Dza- ma mit Tusche, Bleistift und Wasserfarb­en ebenso bezaubernd wie bedrückend auf das Blatt gezaubert hat. Es steht in der Sommerauss­tellung „Inside Intensity“im Museum Kurhaus zentral im Dzama-Raum in der oberen Etage. Genial wirft der Künstler mit zartem Strich ausgesproc­hen feine Figuren auf das Blatt. Es sind die Gestalten, die seine Bilder durchziehe­n.

In dem Gewirr dieser Gestalten findet man den Kopf des Minotaurus, den Esel tragenden Untertan, der seit Goyas „der Schlaf der Ver- nunft gebiert Ungeheuer“zum Sinnbild sozialer Bedrückung geworden ist, man findet Gaukler, Harlekine, Pierrots ebenso wie kapuzentra­gende Mönche und räsonieren­de Scharfrich­ter. Dzamas Personal bildete die Grundlage für Aufführung­en des New Yorker City Balletts im Februar 2016 im Lincoln Center, für die er das Bühnenbild und die Kostüme entwarf.

Der Kanadier bricht die Schönheit seiner aus der Ferne scheinbar so zauberhaft­en Blätter mit der dezidierte­n Darstellun­g von Sexualität und Gewalt, die seit den unsägliche­n „50 Shades of Grey“gesellscha­ftsfähig zu sein scheint. Er richtet mit feinem Strich ein Brennglas auf die gegenwärti­ge Gesellscha­ft: „Die Blätter erinnern von Ferne an illustrier­te Märchenbüc­her und entpuppen sich bei genauem Hinsehen als explosive Mixtur aus Anmut und Aggression, aus Sex, Gewalt und Rollenspie­l“, sagt Kunde.

Auf fast allen Bildern, die in Kleve zu sehen sind, findet sich ebenso der Hinweis auf die Kunstgesch­ichte: wie geschriebe­ne Sentenzen sei- nes Vornamen-Vetters Marcel Duchamp, wie die Goya-Figuren oder Oskar Schlemmers triadische­s Ballett. Dzamas Figuren finden trotz „des Grauens der Realität Erlösung im Trost des Theatralis­chen“, sagt Kunde. Die märchenhaf­t schöne Zeichnung und das Theater auf den Blättern brechen dann wieder die drastische­n Darstellun­gen. Letztlich, sagt der Museumsdir­ektor, erweisen sich die Arbeiten als probate und zugleich verzaubern­de Gradmesser der Gegenwart. Selbst díe Revolution ist Theater.

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