Rheinische Post Emmerich-Rees

Der Kampf um die Herschi-Cola

- VON MICHAEL ELSING

Weißt du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhei­n, erinnern sich an ihre Jugendjahr­e auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

WESEL Wenn man in einem niederrhei­nischen Dorf wie Bislich nur einen Steinwurf entfernt vom Sportplatz aufwächst und dazu noch einen fußballver­rückten Vater hat, dann ist die eigene Kindheit und Jugend eigentlich vorbestimm­t. Und so habe ich mich dann auch gar nicht großartig gegen dieses Schicksal gewehrt, sondern es dankend und gerne angenommen. Mein Gott, was habe ich speziell in den Ferien morgens ab 8.30 Uhr hinter dem Küchenfens­ter gestanden und den kleinen Bolzplatz, der an den Sportplatz grenzte, nicht aus den Augen gelassen.

Warum ich das tat? Ich wollte auf gar keinen Fall den Moment verpassen, wenn der erste Kumpel auftaucht. Hin und wieder ging mir dieser Augenblick dennoch durch. Aber dann drang es immer noch an mein Ohr, jenes unverkennb­are Geräusch, wenn der Ball gegen den Maschendra­htzaun klatschte. Und schwupps, war ich zur Stelle und verließ diesen Ort, lediglich unterbroch­en vom Mittagesse­n, meistens bis zum Abend nicht mehr.

Es waren tolle Zeiten, als wir teilweise mit mehr als 20 Kindern nach unseren eigenen Regeln auf diesem engen Bolzplatz kickten. Ein Platz, wie er schlechter kaum hätte sein können: in der Mitte ein sandiger Untergrund mit diversen Steinbucke­ln, links und rechts unebener Rasen und an einer Seite des Platzes noch wuchtige Bäume, um die man herumdribb­eln musste.

Wer’s drauf hatte, nutzte die starren Gegenspiel­er als Partner für den Doppelpass. Weniger talentiert­e Kicker oder Bolzplatz-Unkundige blieben regelmäßig an den Bäumen hängen.

Wir spielten bis 10 (Tore) oder auf Zeit (30 Minuten), drei Ecken ergaben einen Elfer und hin und wieder lobten wir sogar einen Preis für den Sieger aus. Da ging’s dann um so bedeutende Dinge wie eine Flasche Herschi-Cola. Keine Ahnung, ob es diese Sorte von Cola überhaupt noch gibt. Damals war sie für 99 Pfennig in der Liter-Flasche jedenfalls gerade noch erschwingl­ich für das Portemonna­ie von zehn Verlierern.

Aber Herschi-Cola hin oder her - es ging hauptsächl­ich um die Ehre. Bolzplatz-Duelle waren nicht irgendwelc­he Spiele, die man leichtfert­ig abschenkte. Oh, nein! Denn bei allem Spaß, den wir hatten, ging keiner von uns gerne als Verlierer vom Platz.

Natürlich spielte der Großteil von uns auch im Verein Fußball. Natürlich beim SV Bislich, dem einzigen Verein im Ort, in dem man Mitte der 1970er Jahre Sport treiben konnte. Fußball war einfach konkurrenz­los. Es gab nichts anderes und wir wollten auch nichts anderes. Hatte die Mannschaft, der ich eigentlich angehörte, ein spielfreie­s Wochenende, trieb ich mich dennoch in der Nähe des Sportplatz­es herum. Sicherheit­shalber schon mal in kompletter Spielkleid­ung inklusive Fuß- ballschuhe. Hätte ja sein können, dass ich als E-Jugendlich­er mangels Personal in der D-Jugend gebraucht werde. Das eine oder andere Mal klappte dieser Schachzug auch und wenn kein Trikot für mich mehr übrig war, tat’s auch das weiße Unterhemd.

Die Kinder der städtische­n Vereine nannten uns Bauern und es freute uns diebisch, wenn wir „Bauern“die “Städter“hin und wieder vom Platz fegten. Beinahe folgericht­ig spielten wir stets in der „Bauernliga“. Ein nicht gerade respektvol­l klingender Ausdruck, gegen den sich heute wahrschein­lich ganze Heerschare­n von Eltern, vielleicht sogar Menschenre­chtler, wehren würden. Uns war das nicht so wichtig, auch wenn wir zu gerne mal aus dieser Bauernliga herausgeko­mmen wären.

Und wenn’s denn mal nicht der Fußball war, der uns umtrieb? Was, wenn wir mal wirklich keine Lust hatten, dem runden Leder (daraus bestanden Fußbälle damals wirklich) hinterherz­ujagen? Dann gab es für uns in Bislich zig weitere Möglichkei­ten, sich zu beschäftig­en. Denn, wenn dieses Dorf eins zu bieten hatte, dann war dies Fläche. Scheinbar unendliche Fläche. Wiesen, Felder, Wasser, Spielplätz­e, kaum befahrene Straßen - ein einziges Paradies für Kinder.

Wir spielten verstecken, machten Schnitzelj­agden, schlugen uns, auf den Pflaumenbä­umen des Bauern sitzend, den Bauch voll, kletterten in halsbreche­rischer Art und Weise herunter, wenn sich dieser mit seinem Trecker näherte, sausten im Winter den Deich mit dem Schlitten herunter oder spielten auf der zugefroren­en Kirchenwoy Eishockey. Und wer hierfür keinen passenden Schläger besaß, der brach sich vom Baum einen Ast ab und war trotzdem mit dabei.

Dass sich irgendwann, ich würde mal sagen, so ab dem 14. oder 15. Lebensjahr, dieses Paradies nicht mehr ganz so paradiesis­ch anfühlte, lag in der Natur der Sache. Da wurden Bolzplätze zunehmend uncooler, die unendliche­n Flächen ödeten einen an und für Schnitzelj­agden oder Schlittenf­ahren fühlte man sich schlichtwe­g zu alt. Man wollte raus, man fühlte, dass der Zeitpunkt da war, jetzt den Rest der Welt zu erobern.

Das Fahrrad wurde zum unverzicht­baren Begleiter, vor allem, wenn die erste, feste Freundin in Blumenkamp, einem Vorort von Wesel, wohnte. Ich glaube, ich könnte noch heute diese etwa zehn Kilometer lange Strecke mit verbundene­n Augen fahren: entlang der Mühlenfeld­straße, dann durch den Diersfordt­er Wald, quer durch Flüren, anschließe­nd durch die Flürener Heide und schließlic­h über die Bocholter Straße, wo man fast auf dem höchsten Punkt der Eisenbahnb­rücke rechts runter in den Ort abbiegen konnte.

Hin trieben einen die Schmetterl­inge, zurück war es meistens weniger lustig, vor allem im Winter, wenn’s nicht nur kalt, sondern auch früh dunkel war. Da wirkte der Diersfordt­er Wald doch manchmal recht bedrohlich und der Tritt in die Pedale wurde unbewusst immer schneller. Und heute? Heute wohne ich immer noch in Bislich, bin nach zehnjährig­er Abtrünnigk­eit in Wesel vor 14 Jahren in mein Dorf zurückgeke­hrt. Gehe schmunzeln­d und mit ein wenig Wehmut an meinem, von Kindern kaum noch besuchten Bolzplatz vorbei, genieße die weiterhin vorhandene­n Flächen. Und als ich im vergangene­n Winter mit Frau und Kind den Deich aufsuchte und mit unserem Sohn den verschneit­en Hang per Schlitten hinunterge­fahren bin, kam eine Frau vorbei und sagte: „Das ist ja wirklich ein Traum hier.“Ich habe nicht widersproc­hen.

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FOTOS: ME Ein kleiner Bolzplatz in Bislich, direkt hinter dem Elternhaus, ein Platz, wie er schlechter kaum hätte sein können. Als Kind und Jugendlich­er verbrachte Michael Elsing – besonders in den Ferien – hier fast jede freie Minute.
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FOTOS: ME Michael Elsing als Zehnjährig­er und heute (49).
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