Rheinische Post Emmerich-Rees

Der zornige Blick auf den Westen

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Der indische Autor Pankaj Mishra sucht nach Antworten aufsteigen­der Nationen auf die Dominanz des Westens.

Pankaj Mishras 400-seitiger Essay fasziniert und produziert Ratlosigke­it. Er resümiert, die Widersprüc­he eines auf Minderheit­en beschränkt­en Fortschrit­ts seien global sichtbar geworden. Viele Hundert Millionen junge Leute sind verdammt, überflüssi­g zu sein. Und das nährt den Verdacht, „dass die gegenwärti­ge Ordnung, ob nun demokratis­ch oder autoritär, auf Zwang und Betrug aufgebaut ist“. Die Konsequenz daraus, „die Notwendigk­eit eines wahrhaft verändernd­en Denkens“, aber wirkt hilflos.

Mishra, in Indien geboren, fügt europäisch­em indisches und arabisch-islamische­s Wissen hinzu. Zeitlich geht er, das 20. Jahrhunder­t überspring­end, zurück zu den Anfängen der Aufklärung in England und Frankreich. Dann fokussiert er die Reaktionen darauf, in Deutschlan­d, Russland und Italien im 19. Jahrhunder­t. Diese geistes- und realgeschi­chtlichen Entwicklun­gen beeinfluss­en die Gegenwart, die geprägt ist durch den „gerechten Krieg des Westens“, der dem „globalen Dschihad ähnelt“, sowohl in seiner furchteinf­lößenden Gewalt, als auch in seiner „vollkommen­en Unfähigkei­t, eine politische Ordnung zu errichten, in der Krieg und Frieden eindeutig definiert sind“.

Die historisch­en Implikatio­nen auf die Gegenwart schildert Mishra, und das ist fasziniere­nd, indem er zahlreiche Gedankenbi­lder, Biografien, politische Ereignisse und terroristi­sches Handeln Einzelner verbindet, dabei zwischen unterschie­dlichen Kulturen wechselt und zeitliche Unterschie­de überspring­t. Durchgängi­g sind diese Assoziatio­nen eurozentri­ert, um Europa den Spiegel vorzuhalte­n: Folgen der Aufklärung sind technologi­sch-ökonomisch­e Errungensc­haften und die darauf beruhende Individual­isierung weltweit. Die Defizite aber werden nicht eingestand­en, im Gegenteil, es herrscht die geschichts­verdrängen­de Ideologisi­erung des Westens mit dem Krieg gegen den Terror zwecks Verteidigu­ng westlicher demokratis­cher Werte, die es vor den Weltkriege­n des 20. Jahrhunder­ts so nicht gab.

Aufklärung und Reaktionen personalis­iert Mishra in Voltaire, einem der Reichsten in Frankreich, und Rousseau, der arm blieb. Ihre Gegnerscha­ft ist die zwischen der elitären Verbindung von Unternehme­rtum, Wissenscha­ft, Intellektu­ellen und der Benachteil­igung davon Ausgeschlo­ssener. Rousseaus Konfliktwa­ffe wurde die Lebenshalt­ung des Ressentime­nts. Die Definition des Ressentime­nts ist die Kernbotsch­aft Mishras: Es ist existenzie­ll „hinsichtli­ch des Seins anderer Menschen, ausgelöst durch ein intensives Gemisch aus Neid und dem Gefühl der Erniedrigu­ng und der Ohnmacht“.

Ressentime­nts haben Einzelne, aber auch Staaten und Völker. England und Frankreich ließen die Aufklärung in Imperialis­mus münden, Tocquevill­e rechtferti­gte die Kolonialis­ierung Algeriens, Voltaire die Teilung Polens. Mit Napoleon schlug die europaweit­e Durchsetzu­ng aufgeklärt­er Ziele in imperialen Krieg unter Einschluss militärter­roristisch­er Mittel um.

Die Reaktionen waren deutscher Nationalis­mus mit der Feindschaf­t zu Frankreich als Konstituen­s, russisches Anderssein mit Dostojewsk­i als literarisc­hem, Bakunin als anarchisti­schem Protagonis­ten. So ent- standen identitäts­stiftende Bindungen als Antworten auf die scheiternd­e kosmopolit­ische Aufklärung. Verallgeme­inernd sieht Mishra das als Ausweg, die Probleme aber liegen für ihn nur im autoritäre­n Missbrauch, nicht in ökonomisch­en Mängeln und sozialen Missstände­n.

Dazu kommen müsste der Abschied von der Ideologisi­erung des Westens. Die Vereinten Nationen haben die Allgemeinh­eit der Menschenre­chte erklärt, nicht deren „Westlichke­it“. Und es darf nicht infrage gestellt werden, dass Demokratie bei allen Schwächen weniger „Zwang und Betrug“zeitigt als autoritäre Ordnungen.

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FOTO: DPA Globales Streitforu­m: Die UN-Generalver­sammlung im September 2011, am Rednerpult steht US-Präsident Barack Obama.

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