Rheinische Post Emmerich-Rees

Treffpunkt Sandberg

- VON TIM HARPERS

Unser Autor verbrachte seine Jugend in Duisburg-Homberg. Er erinnert sich an zahllose Tage auf dem Bolzplatz, Sommerpart­ys am Ufer des Uettelshei­mer Sees und die überzeugen­de Wirkung hausgemach­ter Nussecken.

DUISBURG Blut, Tränen und jede Menge Schweiß – einige dieser Nachmittag­e waren höllisch. Die Sonne brannte gnadenlos auf uns herab, und unsere Trikots, die wir mit Namen wie Ronaldinho, Ronaldo oder Ballack hatten beflocken lassen, waren so nass, als wären wir mit ihnen schwimmen gewesen. 110 Meter in der Länge, gut 65 Meter in der Breite misst der Bolzplatz am Sandberg in Homberg. Er war der zentrale Anlaufpunk­t unserer Sommerferi­en – 7150 Quadratmet­er voller Asche und Staub, ein Ort zum Träumen, jugendlich­er Ausgelasse­nheit und großer Emotionen.

Dass ich meine Jugend in der Großstadt als wunderbar empfunden habe, können wohl nur andere Stadtkinde­r verstehen. Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich im Garten meiner Eltern meine Augen schließe und die Autos auf der nahen A 40 vorbeibrau­sen höre. Außerdem zaubert mir der Geruch nach faulen Eiern hin und wieder ein Lächeln ins Gesicht. Er erinnert mich an das Schwefelar­oma, das mir jedes Mal in die Nase stieg, wenn ich am Rheinufer entlang durch das alte Chemiewerk Sachtleben (heute Teba) in Richtung Rheinhause­n radelte, um meinen Kumpel Martin zu besuchen.

Homberg ist ein sozial vielschich­tiger Stadtteil. Der Ortsteil Hochheide im Zentrum ist für seine großen weißen Hochhäuser berüchtigt. Dort wohnen vor allem Arbeiter. Es ist eine Gegend mit hohem Ausländera­nteil und viel Armut. In Richtung Rhein gibt es eine große Bergbau-Siedlung, die fast schon so etwas wie Arbeiter-Romantik ausstrahlt. Und entlang der Moerser Stadtgrenz­e finden sich die typischen Wohngebiet­e der gehobenen Mittelschi­cht. Einfamilie­nhäuser mit mittelgroß­en Gärten – die Heimat von Akademiker­familien und Gutverdien­ern.

Der Sandberg gab all den Jugendlich­en des Stadtteils ein zweites Zuhause. So unterschie­dlich ihre Herkunft war, der von hohen Eichen, Buchen und Birken umsäumte Bolzplatz war der Ort, an dem die Kinder von Stahlarbei­tern, Altenpfleg­ern, Kaufleuten und Ärzten zueinander­fanden. Der Fußball verband uns, wir fanden eine gemeinsame Ebene, auch eine gemeinsame Sprache. Es war eine Zeit, die mich geprägt hat. Die typische RuhrpottSc­hnauze zum Beispiel, bekam ich nicht durch mein Elternhaus vermittelt. Der Bolzplatz war für mich eine Art Schule. Ich lernte dort etwas, das ich gerne als soziale Flexibilit­ät bezeichne. Mir fällt es heute leicht, mit Menschen unterschie­dlicher Herkunft eine gemeinsame Ebene für ein Gespräch zu finden – eine Fähigkeit, die mir in meinem Berufslebe­n als Journalist bereits das eine oder andere Mal weitergeho­lfen hat.

Darüber hinaus sind mir von dieser Zeit viele wunderschö­ne Erinnerung­en und Freundscha­ften geblieben. Ich erinnere mich an hart geführte Spiele gegen „die Oppas“, eine Gruppe von Erwachsene­n zwischen 30 und 50, die immer diens- tags in den Abendstund­en vorbeikam. Die Männer fragten jedes Mal freundlich, ob sie denn mitspielen dürften. „Es ist eure Jugend und euer Platz“, sagten sie immer. „Wir sind hier nur zu Gast. Wer hier spielt, entscheide­t ihr.“Wir ließen sie mitmachen – meistens. Vor allem wegen der hausgemach­ten Nussecken, die „Oppa“Armin in den Pausen mit uns teilte.

Homberg war für uns aber mehr als bloß Fußball. Es war ein großer Spielplatz, der darauf wartete, mit dem Fahrrad erkundet zu werden. Vor allem der Uettelshei­mer See, kurz „Uetti“, hatte es uns angetan. So war eine kleine Grillhütte am Ufer Schauplatz vieler rauschende­r Sommerpart­ys.

Bis tief in die Nacht saßen wir rund ums Lagerfeuer am Seeufer zusammen, tranken unsere ersten Biere, fachsimpel­ten über Gott, die Welt und darüber, was einmal aus uns werden würde. Das alles im Schatten von vier Großtanks eines nahen Treibstoff­depots. Was andere gestört hätte, machte für uns den Reiz unseres Zuhauses aus. Industrie-Charme eben, wie er einem an so vielen Stellen in Duisburg entgegensc­hlägt.

In unmittelba­rer Nachbarsch­aft Hombergs, nur wenige Kilometer vom Uettelshei­mer See entfernt den Rhein hinunter, liegt der ländlich geprägte Stadtteil Baerl, in dem viele meiner Schulkamer­aden lebten. Deshalb gehörten auch zahllose ausgedehnt­e Radtouren am Rheinufer entlang zu meinen Jugendjahr­en. Wir trafen uns in Baerl regelmäßig mit einer Mädchencli­que, alberten herum und lernten die Liebe kennen. Es gab dort eine Skateranla­ge, an der wir uns trafen, um kurze Videoclips unserer Heldentate­n auf Inline-Skates aufzunehme­n. Außerdem war da der Stadtwald Baerler Busch, in den wir uns verschämt zum Knutschen zurückzoge­n, wenn unsere Freunde uns nicht sehen sollten.

Doch wie es häufig ist mit solchen Jugendfreu­ndschaften, mit der Zeit verloren wir die Baerler Mädels aus den Augen. Uns blieb der Sandberg. Wir kamen dort noch jahrelang zusammen. Doch irgendwann wurde die Truppe kleiner. Viele von uns verschwand­en, um irgendwo zu studieren oder Ausbildung­en anzufangen. Neue Jugendlich­e kamen nach, und von der alten Truppe war bald niemand mehr übrig.

Vor kurzem – es war ein Dienstag – war ich zu Besuch bei meinem Kumpel Mirko. Er ist der letzte von uns, der noch in Homberg lebt. Wir dachten darüber nach, am Sandberg vorbeizuge­hen, schließlic­h soll sich dort einiges verändert haben. Doch nach kurzem Überlegen verzichtet­en wir darauf. Wir hatten Angst, nicht mitspielen zu dürfen. Die „Oppas“von früher, das waren nun wir. Im Vergleich mit ihnen hatten wir aber einen entscheide­nden Nachteil: Wir hatten keine Nussecken.

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ARCHIVFOTO: REICHWEIN Weiße Riesen in Homberg-Hocheide
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Tim Harpers heute und im Alter von zwölf Jahren
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