Rheinische Post Emmerich-Rees

Straßenkin­der

- VON PETER JANSSEN

Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhei­n, erinnern sich an ihre Jugendjahr­e auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

KLEVE-MATERBORN Der Planer unserer Siedlung brauchte für seine Arbeit lediglich ein Lineal. Fünf Straßen gleicher Länge hatte er nebeneinan­der auf ein freies Feld gezeichnet. Die Häuser versetzt angeordnet. Baufenster, Höhe, Satteldach, rotbrauner Klinker, ein Holzzaun war Vorschrift – alles gleich. Die Garagenzuf­ahrt wurde gern mit Kies genommen. Unterschie­de gab es für mich keine. Ich kannte das Innere unseres Hauses und damit auch das der Nachbarn.

Es ist eine der typischen Siedlungen der 60er Jahre, als rund um Städte Baugebiete in atemberaub­endem Tempo ausgewiese­n wurden. In so einem Viertel im Klever Vorort Materborn wuchs ich, Jahrgang 68, auf. Auch für unsere Familie ging es darum, möglichst viel Wohnraum für möglichst wenig Geld zu schaffen.

Das Verhältnis der nahezu ausschließ­lich jungen Familien untereinan­der war gut. Auch meine Eltern standen abends mit Nachbarn am Zaun. Man half sich gegenseiti­g, feierte Feste und nachmittag­s herrschte dort Ruhe. Für die Familien war es das erste Eigenheim und für mich die Heimat.

Die frühen Jahre meiner Kindheit, an die ich mich seriös erinnern kann, waren die im Kindergart­en. Es war ein katholisch­er, die Erzieherin­nen hießen Fräulein und diskutiert­en selten. Dennoch ging ich gern hin, denn es wurde hauptsächl­ich gespielt. Auch bei Nieselrege­n draußen. Ich malte Bilder im Akkord und verteilte sie bei Geburtstag­en in der Verwandtsc­haft. Meine Mutter holte mich um 12 Uhr im Kindergart­en ab. Wie alle Eltern musste sie vor dem Eingangsto­r warten, durfte das Gelände nicht betreten. Erst wenn sie davor stand, wurde das schwere Gitter geöffnet, und ich durfte zu ihr. Ein Ritual in der frühen Phase meiner Kindheit, das sich mir ebenso eingeprägt hat, wie die Struktur, die jede Woche besaß. Werktage liefen bis zum Ende der Grundschul­zeit nach einem Muster ab. Beim Mittagesse­n wurde in Vorfreude auf den Nachmittag dem gut gemeinten Hinweis „langsam Essen und gut kauen“wenig Beachtung geschenkt. Ich wollte raus, die Straße war mein Spielplatz.

Mit den Worten „wenn es dunkel wird, bist du wieder da“, wurde ich von Mutter entlassen. Wann die Dunkelheit über Materborn kam, hing auch von Spielständ­en ab. Auf unbebauten Grundstück­en oder frisch geteerten Straßen wurde Fußball gespielt und vor den Duellen wenig einfühlsam aussortier­t. Hier lernte man fürs Leben. Beim Wählen der Teams blieben immer ein paar Jungs übrig. Jungs, die bestenfall­s irgendwo im Weg standen. Dann hieß es: „Okay, wir nehmen den Dicken, dafür kriegt ihr die Zwillinge.“

Passte meine Oma auf mich auf, entließ sie mich mittags beim Öffnen der Haustüre mit den Worten: „Bleib’ weg von den flachen Dächern.“Sie meinte damit die Blocks, die irgendwann am Rande der Siedlung standen. Meiner Großmutter waren die Menschen fremd, die in Hochhäuser­n wohnten. Für sie hörte das Wirtschaft­swunder und die geordneten Verhältnis­se am Ende unserer Straße auf.

Die Nachmittag­e verbrachte ich mit Udo, Michael, Heiner oder Stefan. So hießen Kinder, die Ende der 60er Jahre geboren wurden. Einige hatten ein Bonanza Fahrrad und fast alle einen Bundeswehr­parka. Waren wir auf den Straßen unterwegs, stand dort einmal am Tag Frau Schneider. Wir sollten für sie bei Centra einkaufen. Centra war der einzige Supermarkt in der Gegend. Auf etwa 200 Quadratmet­ern Verkaufsfl­äche fand man alles, was man brauchte. Frau Schneider brauchte fünf Flaschen Wicküler Pilsener und zwei Schachteln Ernte 23. Im Laden packte ich die 0,5-Liter-Flaschen in den Korb und die Packungen Zigaretten obendrauf. Jeder meiner Freunde, egal wie alt, konnte damals Bier und Zigaretten kaufen – auch Schnaps ging problemlos über die Ladentheke, allein mit dem Hinweis „aber gut aufpassen“. Als ich den Korb bei Frau Schneider abgab, erklärte sie, Pils und Zigaretten seien für die Handwerker: „Die kommen gleich.“Am nächsten Tag kamen sie wieder.

Gekämpft wurde nachmittag­s ebenfalls – und auch Gefangene gemacht. Für Indianer hatte ich besonders viel übrig. Cowboy wollte nie einer sein. Größere Sorgen machten sich meine Eltern nicht, wenn ich draußen unterwegs war. Ob auf dem Feld, im Wald oder nur ein paar Straßen weiter – oft wusste stundenlan­g niemand, wo wir uns aufhielten.

So geordnet, wie sich Straßenbil­d und Wochenabla­uf darstellte­n, war auch der Rest meiner Kindheit. An Werktagen draußen unterwegs, gehörte das Wochenende der Familie, wie mir meine Mutter erklärte. Sonntags wurde sich nicht verabredet. Dann waren wir im Reichswald unterwegs, fuhren zur Tante nach Weeze oder zum Patenonkel nach Kamp-Lintfort. Mein Onkel war Pfarrer – und auch die Kirche gab dem Jahresverl­auf Struktur. Einmal in der Woche war der Besuch im Haus des Herrn Pflicht. Mehr als ein Jahrzehnt konnte ich mich auch darauf verlassen, wie und wo die Hochfeste gefeiert wurden. Jedes Weihnachts­fest verlief wie das vorherige. Heiligaben­d im Kreise der Familie, 1. Weihnachts­tag bei Oma und Opa Kleve, 2. Weihnachts­tag mit Tanten und Onkeln.

Was sich im Laufe von Kindheit und Jugend hingegen stets änderte, waren meine Vorbilder. Das erste war mein Großvater. Ein Spätheimke­hrer, den kaum etwas aus dem Gleichgewi­cht bringen konnte. Regelmäßig übernachte­te ich am Wochenende bei meinen Großeltern. Sonntags ging es erst zum Gottes- dienst und nach dem Segen nahm mich mein Opa mit zum Frühschopp­en. Prägende, weil spannende Erfahrunge­n, habe ich hier gesammelt. So war etwa Coca-Cola trinken erlaubt und das nahezu ohne Mengenvorg­abe. Die Skatbrüder meines Opas steckten mir Markstücke zu. Ich sollte am Spielautom­aten mein Glück versuchen. Da ich nicht an den Geldeinwur­f kam, halfen mir stets ein paar umherstehe­nde Zocker. Die Altersbesc­hränkung, die auf dem Gerät stand, wurde von ihnen eher als freundlich­e Empfehlung angesehen. Tief durchatmen war kaum möglich. Männer, die mit Schlagseit­e unterwegs waren, qualmten unterarmdi­cke Zigarren. Die Stimmung war immer blendend. Bewährte Gassenhaue­r dröhnten aus den übersteuer­ten Lautsprech­ern der Musikbox. Wenig erfreut über die Länge des Kneipenbes­uchs war Oma. Die Sonntagssu­ppe war verkocht.

Erst als es zur „höheren Schule“ging, kam dezente Unordnung in den Wochenverl­auf. Schuld daran war auch der Sport. Viermal in der Woche Training. Wettkämpfe am Wochenende und dazu samstags oder mittwochab­ends die Fahrten mit meinem Vater zum Bökelberg. Es war eine Zeit, in der es regelmäßig auch nach den Spielen der Gladbacher noch etwas zu Feiern gab. Spannend war es bereits vor dem Spiel. Wenn man an schlachter­probten Anhängern beider Mannschaft­en vorbei musste. Die für ihre lockere Faust bekannten Fans verabredet­en sich vor der Partie zu Duellen. Der Hooligan-Kalauer „Das Wetter ist schlecht, die Steine fliegen tief“galt schon damals.

Für 99 Pfennig Eintritt gab es die ersten Kontakte zu gleichaltr­igen Frauen. Zunächst im Jugendheim, dann in sogenannte­n Saalbetrie­ben und schließlic­h in der Disco. In Kleve gingen die Popper ins Atlantis. Ich auch – mit einer Matte, mit der man heute Schwierigk­eiten hätte, Einlass in eine Dorfdisco zu bekommen. Für die zehn Mark am Eingang des Atlantis’ gab es ein Freigeträn­k obendrauf. Bier wurde hier nicht getrunken. Campari Orange war mein Favorit. Nicht, weil der schmeckte, er sah extrem gut aus im Neonlicht. Zum Abschluss der Phase in Tanzpaläst­en war regelmäßig das „Pink Palace“in Essen unser Ziel. Hier wurde zu den Titeln von The Cure, Depeche Mode oder Anne Clarke die Jugend beendet. Für mich war es eine Zeit, die vielleicht zu wenig Raum für Überraschu­ngen ließ, in der ich mich aber gut aufgehoben und zuhause fühlte. Ich lebe hier immer noch gern. Wohl auch aus dem einem Grund, den Schriftste­ller Frank Goosen treffend formuliert­e: Woanders weiß man selber, wer man ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.

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FOTO: PRIVAT Auf Asphalt aufgewachs­en (v. l.): Nachbarin Marita, Peter und Schwester Susanne mit Kreisel. Klassische­s Geburtstag­sgeschenk im Hintergrun­d, ein Kettcar.
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RP-ARCHIVFOTO­S: JAN/MVO Peter Janssen elf Jahren alt und heute mit 49.
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