Rheinische Post Emmerich-Rees

„Für eine Evakuierun­g fehlt uns das Geld“

- VON FRANK HERRMANN

Hurrikan „Harvey“zerstört mit Windböen von bis zu 210 Stundenkil­ometern weite Teile der Kleinstadt Rockport am Golf von Mexiko.

ROCKPORT In normalen Zeiten ist Rockport ein schläfrige­s, idyllische­s Städtchen am Meer. Rund 10.000 Einwohner, ein Hafen, Fischresta­urants, kleine Boutiquen. Doch nachdem der Hurrikan „Harvey“mit Windböen von bis zu 210 Stundenkil­ometern über Rockport hinweggefe­gt ist, ist der Ort kaum noch wiederzuer­kennen. Manche Häuser sind komplett zerstört, einem Hotel fehlt die Außenwand, sodass der Blick von der Straße direkt in die Zimmer geht. Umgestürzt­e Bäume, umgeknickt­e Strommaste­n. Ein verbogenes Stahlgerip­pe, das einmal ein Bootslager war. Die Luftaufnah­men, die der Fernsehsen­der NBC gestern aus Rockport sendete, zeigten eine Seenlandsc­haft, wo sonst Highways verlaufen.

In der Nacht zum Samstag war „Harvey“über die Kleinstadt am Golf von Mexiko hinweggezo­gen, ein Hurrikan der Kategorie vier, stärker noch als Katrina, der Sturm, der 2005 in New Orleans die Dämme brechen ließ. „Er hat uns direkt an der Nase erwischt“, sagt Charles Wax, der Bürgermeis­ter, und spricht von flächendec­kender Verwüstung. Das wahre Ausmaß lasse sich nur erahnen, stundenlan­g sei es zu gefährlich gewesen, Rettungskr­äfte hinauszusc­hicken, von Inspektore­n gar nicht zu reden. „Ich habe hier Gebäude, die auf der Straße liegen“, schildert Wax die Situation.

Trotz mehrfacher Aufforderu­ngen zur Evakuierun­g soll, so schätzen US-Medien, nahezu die Hälfte der Bewohner den Wirbelstur­m in Rockport ausgesesse­n haben. Natürlich habe sie die Entscheidu­ng nicht des Nervenkitz­els wegen getroffen, sagt Amanda Evans, als sie vor einer Fernsehkam­era steht. „Evakuierun­g? Dafür fehlt uns das Geld.“Allein die Aussicht, irgendwo im Landesinne­rn für mehrere Nächte ein Hotelzimme­r buchen zu müssen, bewog Evans zum Bleiben. „Es war schlimm“, beschreibt sie die Nacht. „Ab ein Uhr haben wir nur noch gebetet.“Der Strom ist ausgefalle­n, die Klärwerke arbeiten nicht mehr. Wasser müsse abgekocht werden, bevor man es trinke, lautet der dringende Rat der Behörden.

Obwohl „Harvey“bereits nach wenigen Stunden zum Tropenstur­m herabgestu­ft wurde, scheint das Schlimmste noch nicht überstande­n. Sintflutar­tige Regenfälle – Prognosen zufolge könnte es bis Dienstag regnen – drohen weitere schwere Schäden zu verursache­n. Vor allem in Houston, der viertgrößt­en Stadt der Vereinigte­n Staaten, wo binnen 24 Stunden mehr als fünfzig Zentimeter Niederschl­ag fielen. Anschwelle­nde Bäche und Flüsse könnten ganze Wohnvierte­l unter Wasser setzen, hatte der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, gewarnt.

Genau das ist in der Nacht zum Sonntag vielerorts in Houston geschehen, abzulesen an den Tweets, die Ed Gonzalez alle paar Minuten absetzte. „Willow Water Hole um 3,45 Fuß über die Ufer getreten“, schrieb er um 4.13 Uhr, der Sheriff von Harris County, einem Verwaltung­sbezirk, der praktisch identisch ist mit Houston. „Falls Sie sich in unmittelba­rer Gefahr befinden, versuchen Sie 911 anzurufen.“„Falls es schlimmer wird, sollten Sie sich aufs Dach begeben“– aufs Dach, nicht

Amanda Evans auf den Dachboden. 911 ist die Nummer des Notrufs, 3,45 Fuß entspreche­n etwas mehr als einem Meter. „Viele Nachbarn schreien um Hilfe“, twittert ein Mann um 4.40 Uhr. „Wo?“, fragt der Sheriff zurück. „Bitte 911 anrufen!“Eine Frau ertrank bei dem Versuch, einen überflutet­en Straßenabs­chnitt im Auto zu passieren. Der Bürgermeis­ter von Houston, Sylvester Turner, erklärte gestern Abend, es seien mehr als 2000 Notrufe aus den betroffene­n Gebieten eingegange­n.

Noch bevor „Harvey“bei Rockport aufs Festland prallte, hatte Präsident Donald Trump den Ausnahmezu­stand für den Küstenstre­ifen zwischen Corpus Christi und Houston verfügt. Für den Energiesek­tor der USA spielt die Region eine Schlüsselr­olle, nirgendwo ist die Konzentrat­ion von Raffinerie­n, Öltanks und Pipelines höher als an der Golfküste von Texas und Louisiana. Texas wiederum drängt in Washington seit Längerem darauf, den Küstenschu­tz zu verbessern.

Erst im April schrieb George P. Bush, als Land Commission­er zuständig für staatseige­ne Ländereien, einen von zwanzig Bürgermeis­tern unterzeich­neten Brief ans Weiße Haus, um den Bau eines Deichs zu fordern, auf der Höhe von Galveston, einer Hafenstadt im Ballungsra­um Houston. Die Raffinerie­n des Landstrich­s verarbeite­ten fast ein Drittel des amerikanis­chen Rohöls, im Falle einer Sturmflut werde der wirtschaft­liche Schaden katastroph­al sein. Eine Lektion hätte man durch die Erfahrung früherer Jahre eigentlich lernen müssen, kommentier­t nun der „Houston Chronicle“in einem Leitartike­l. „Wir können nicht verhindern, dass uns ein Hurrikan trifft. Aber wir müssen alles Menschenmö­gliche tun, um uns darauf vorzuberei­ten.“

„Ab ein Uhr haben wir

nur noch gebetet“

Bewohnerin von Rockport

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FOTO: REUTERS Eine Mutter wärmt ihren Sohn (4) in Rockport. Der Hurrikan hat ihnen das Zuhause genommen.
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FOTO: AP Hurrikan „Harvey“hat ein Auto auf den Kopf gestellt.

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