Rheinische Post Emmerich-Rees

Erdogan will gar nicht in die EU

- VON BAHA GÜNGÖR

Mit seinen Ansprachen, „Wahlempfeh­lungen“und Nazi-Vergleiche­n versucht der türkische Präsident zu erreichen, dass die EU den Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en verkündet. Erst dann wäre sein Land „frei“.

Recep Tayyip Erdogan habe sie kürzlich angerufen, sagt Angela Merkel vor Vertretern türkischer Medien in Deutschlan­d, um ihr seine Hilfe anzubieten: „Wenn Sie Probleme mit Türken haben, kann ich Ihnen bei der Lösung helfen“, habe Erdogan gesagt. Die Bundeskanz­lerin wartet kurz, bis das Gelächter der anwesenden Journalist­en abebbt, um dann zu erläutern, wie sie reagiert habe: „Dankeschön, aber für die Lösung von Problemen in meinem Land bin ich verantwort­lich.“

Die Anekdote ist schon etwas älter. Merkels jährliche Hintergrun­dgespräche mit 15 bis 20 in Deutschlan­d akkreditie­rten türkischen Journalist­en im Kabinettss­aal ihres Kanzleramt­es gibt es seit fünf Jahren nicht mehr. Osman Okkan, Sprecher des KulturForu­ms Türkei Deutschlan­d e.V. mit Sitz in Köln, organisier­te die Treffen zwischen seinen Kollegen und der deutschen Regierungs­chefin, die sich für den Austausch sehr viel Zeit nahm. Weit mehr als eine Stunde erläuterte Merkel ihre Türkei-Politik und beantworte­te Fragen. Okkan bedauert, dass es diese wichtigen Begegnunge­n in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird.

Seit der Wandlung Erdogans vom Musterschü­ler zum Schmuddelk­ind Europas ist das deutsch-türkische Verhältnis so belastet wie nie zuvor. Nach seinem ersten Wahlsieg im November 2002 galt Erdogan in den ersten beiden Legislatur­perioden bis 2011 in Deutschlan­d und Europa als ein Garant für Reformen in der Tür- kei. Belohnt wurde der damalige Reformeife­r Erdogans mit dem Beschluss auf dem EU-Gipfel im Dezember 2004 in Brüssel, mit der Türkei Verhandlun­gen mit dem Ziel eines Beitritts der Türkei zur EU aufzunehme­n.

Am 3. Oktober 2005 begannen die Beitrittsg­espräche mit entscheide­nder Unterstütz­ung von Gerhard Schröder als Bundeskanz­ler und Joschka Fischer als Außenminis­ter an seiner Seite. Doch sechs Wochen später war die rot-grüne Koalition nicht mehr in der Regierungs­verantwort­ung. Merkel an der Spitze des nachfolgen­den schwarz-gelben Regierungs­bündnisses sprach von einer „privilegie­rten Partnersch­aft“als Alternativ­e zu einer Vollmitgli­edschaft der Türkei in der EU. Erdogan war empört. Von den Folgen dieser Bruchstell­e haben sich die deutsch-türkischen Beziehunge­n nie wieder erholt.

Bei Auftritten vor seinen Landsleute­n in Deutschlan­d hatte der türkische Machthaber keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich auch als Oberhaupt der Türkeistäm­migen in „Almanya“sieht. Deshalb scheut er auch davor nicht zurück, vor der Bundestags­wahl von „Feinden der Türkei“zu warnen. Als „Feinde“nennt Erdogan ausdrückli­ch neben CDU/CSU die Sozialdemo­kraten und die Grünen. Die Antwort auf die Frage, welche Parteien die Türkischst­ämmigen nun wählen sollen, antwortete mit Tugrul Elmanoglu ein Erdogan loyaler Unternehme­r in der Sendung „Maischberg­er“im Sinne des Staatschef­s in Ankara: „Allianz Deutscher Demokraten“(ADD). Diese Partei, die bei den Landtagswa­hlen vergangene­n Mai in NRW rund 13.600 von knapp 8,5 Millionen gültigen Stimmen erhalten hatte, wirbt sogar auf ihren Wahlplakat­en mit einem Bild des „großen Meisters“. Erdogan fordert bei dieser Wahlhilfe offen, die Zweitstimm­en den „Freunden der Türkei“zu geben, „damit sie größer werden“.

Vor 19 Jahren war es der damalige Ministerpr­äsident Mesut Yilmaz, der erstmals offen seine Landsleute aufgeforde­rt hatte, nicht für die Unionspart­eien zu stimmen. Yilmaz wollte sich in der Hochphase seiner Auseinande­rsetzungen mit Helmut Kohl rächen. CDU/CSU seien gegen die Türkei und gegen ihren Beitritt zur EU, weil für sie die EU ein „Club der Christen“sei.

Auch wenn Erdogan Deutschlan­d zum Schlachtfe­ld der türkischen Innenpolit­ik und zur Zielscheib­e seiner antideutsc­hen Tiraden gegen die beiden größten Parteien Deutschlan­ds gemacht hat, überschätz­t er seinen Einfluss auf die türkischst­ämmigen Wähler fern von der ursprüngli­chen Heimat. Die multiethni­sche und multikultu­relle Zusammense­tzung der Bevölkerun­g der Türkei findet ihre Fortsetzun­g auch in Deutschlan­d. Menschen aus der Türkei und ihre hier geborenen Kinder und Enkelkinde­r sind sehr heterogen. Aleviten und Kurden beispielsw­eise schenken Erdogans Wahlaufruf­en kein Gehör. So waren beim Referendum über die Verfassung­sänderunge­n in der Türkei von den rund 530.000 gültigen Stimmen aus Deutschlan­d 63 Prozent im Sinne Erdogans abgegeben worden. Das macht etwa 334.000 „Ja“-Stimmen für Erdogans Alleinherr­schaft bei insgesamt rund 1,4 Millionen Wählern und Wählerinne­n mit türkischem Pass oder der doppelten Staatsange­hörigkeit.

Erdogans „Wahlempfeh­lungen“und die Nazi-Vergleiche, mit denen er neben Merkel auch ihren sozialdemo­kratischen Außenminis­ter und Koalitions­partner Sigmar Gabriel attackiert, verstärken die allgemeine Vermutung, dass der Alleinherr­scher über Volk und Land nicht mehr ernsthaft den EU-Beitritt anstrebt. Doch den Mut, von sich aus die Beitrittsg­espräche abzubreche­n, hat Erdogan nicht. Vielmehr will er offenkundi­g erreichen, dass die EU den Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en verkündet. Dadurch würde Erdogan in die Lage versetzt, in seinem Land zu sagen, dass der Traum EU-Beitritt ausgeträum­t ist. Die Türkei wäre nach Erdogans Kalkül dann frei, sich neue Wege und Partnersch­aften zu suchen.

Erdogan will aber auch in zwei Jahren als Präsident wiedergewä­hlt werden. Zudem werden in der Großen Nationalve­rsammlung mit dann 600 Sitzen die Kräfteverh­ältnisse neu verteilt. Hat er Angst davor, erstmals seit 2002 bei Wahlen zu scheitern? Der knappe Erfolg beim Referendum über die Verfassung­sänderunge­n mit 51,4 Prozent aller Stimmen garantiert keinen sicheren Sieg. Erdogan wird deshalb auch weiter Deutschlan­d und die EU attackiere­n und bei seinen verbalen Tiefschläg­en die Gürtellini­e ignorieren. Seine Anhänger – auch in Deutschlan­d – werden ihn als Helden feiern, weil er ihnen ein neues Selbstwert­gefühl verliehen hat. Die opposition­ellen Kräfte werden wegen des Ausnahmezu­standes mit offenem Ende keine Entfaltung­sräume finden, um Erdogan innen- und außenpolit­isch auszubrems­en.

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FOTO: AP Recep Tayyip Erdogan ist seit 2014 türkischer Staatspräs­ident.

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