Rheinische Post Emmerich-Rees

Ältere wollen kein Mitleid, sondern Mitwirkung

- Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki schreibt hier an jedem dritten Samstag im Monat. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

Bald ist es normal, 100 Jahre alt zu werden“, titelten Zeitungen vor einiger Zeit und belegten ihre Überschrif­t mit Zahlen: Schon heute leben mehr als 18.000 Hundertjäh­rige in Deutschlan­d, 2025 werden es fast 50.000 sein. Wissenscha­ftler behaupten sogar, dass jedes zweite heute in Deutschlan­d geborene Kind gute Chancen hat, 100 Jahre alt zu werden.

Was bedeutet das für uns und unsere Gesellscha­ft? Wenn es tatsächlic­h normal wird, 100 Jahre alt zu sein, dann sollte es auch normal werden, ältere Menschen viel mehr als jetzt einzubezie­hen.

Der Traum vom langen Leben verlangt aber noch mehr: Wertschätz­ung für das Alter. Alt sein heißt nicht automatisc­h, krank oder dement zu sein. Hochbetagt­e Menschen wollen nicht bloß in ihrer Verletzlic­hkeit wahrgenomm­en wer-

Wenn es normal wird, 100 zu sein, dann müssen wir dem Alter mehr Wertschätz­ung entgegenbr­ingen. Alt und Jung haben sich viel zu sagen.

den. Sie wollen kein Mitleid der Jüngeren, sondern Mitwirkung – in der Familie, in ihrer Nachbarsch­aft, in ihrem Veedel. Neben der wichtigen Forderung nach seniorenfr­eundlicher Mobilität ist es ebenso wichtig, dass Vorurteile abgebaut werden, dass sie sich einbringen können mit ihrer Lebenserfa­hrung, dass sie eine gute Beziehung haben zu Kindern, Enkeln und Urenkeln. In dieser Beziehung liegt eine große Chance für unsere Gesellscha­ft.

Beim Abschlussg­ottesdiens­t des Weltjugend­tages 2005 in Köln rief Papst Benedikt XVI. der Jugend der Welt zu, alte Menschen nicht ihrer Einsamkeit zu überlassen. Dahinter stand auch der Gedanke: Alt und Jung haben sich etwas zu sagen. Wenn wir uns umeinander kümmern, tun wir nicht nur den Hochbetagt­en einen Gefallen, sondern auch uns. Es wäre aus Sicht der Jüngeren fahrlässig, die Potenziale, das Wissen und die Lebenserfa­hrung sehr alter Menschen einfach brachliege­n zu lassen.

Der Diözesan-Caritasver­band unseres Kölner Erzbistums hat daraufhin eine jährliche Schifffahr­t ins Leben gerufen: Alt und Jung in einem Boot. Für einige Stunden fahren Hunderte Seniorinne­n und Senioren mit fast ebenso vielen Schülerinn­en und Schülern über den Rhein. Am Dienstag ist es wieder so weit, und ich werde dabei sein. Die Idee ist so einfach: Alte und junge Menschen begegnen sich, lassen sich aufeinande­r ein. Die Erfahrung zeigt, dass gerade die Schüler oft erstaunt von Bord gehen – weil sie entdeckt haben, dass ihre älteren Mitreisend­en cool und weise sind.

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