Rheinische Post Emmerich-Rees

Es geht um die Existenz der SPD

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND JAN DREBES

Vor der Wahl hieß es, in der Partei dürfe bei einem Desaster kein Stein auf dem anderen bleiben. Jetzt klingt das anders.

BERLIN Die Genossen sind traumatisi­ert. Wieder schnitten sie bei der Bundestags­wahl deutlich schlechter ab als die Union, wieder stellten sie einen Negativrek­ord auf. Die 20,5 Prozent sind das Desaster, das viele Sozialdemo­kraten angesichts der schlechten Umfragen vor der Wahl fürchteten – und dennoch auf ein Wunder hofften. Schockiert sind sie nun nicht, aber bitter enttäuscht.

In dieser düsteren Gefühlswel­t will Parteichef Martin Schulz sein Amt behalten und die immer noch stolze SPD vom Abgrund wegführen. Die Sozialdemo­kraten müssen sich angesichts dieses Ergebnisse­s grundlegen­de Fragen stellen, das ist intern klar. Nach der vierten Niederlage in Folge spricht NRW-Parteichef Michael Groschek aus, was viele denken. Er sieht die SPD als Volksparte­i existenzie­ll bedroht. „Es gibt keine Garantie, dass der Fall automatisc­h gebremst wird“, sagte er gestern Abend nach einer NRWPräsidi­umssitzung. Dafür gebe es in der europäisch­en Sozialdemo­kratie Beispiele. Mehr als 30 Prozent müsse der Anspruch der SPD sein.

Martin Schulz sieht zwar durchaus eine eigene Verantwort­ung für das Ergebnis. Mit dem Finger wird aber auch auf andere gezeigt, allen voran auf Schulz’ Amtsvorgän­ger: Außenminis­ter Sigmar Gabriel. Der habe mit seinem Hin und Her mit der Kanzlerkan­didatur und der späten, sehr holprigen Nominierun­g bereits Weichen für die Wahlnieder­lage gestellt, heißt es.

Um den eigenen Machtanspr­uch – vor allem nach innen – zu betonen, gab Schulz gestern nach den Sitzungen von Präsidium und Parteivors­tand eine denkwürdig­e Pressekonf­erenz. Darin kündigte er an, man werde in der Opposition ein „Bollwerk für die Demokratie“sein. Von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) in Aussicht gestellte Gesprächsa­ngebote schlug er bereits jetzt aus: „Frau Merkel hat mich nicht angesproch­en, weder gestern Abend noch heute. Wenn sie mich anrufen will, soll sie mich anrufen“, sagte Schulz, fügte aber hinzu: Nach der TV-Runde der Parteivors­itzenden am Sonntagabe­nd „weiß sie, dass sie möglicherw­eise ihre Zeit besser nutzt und andere anruft“. Merkels Ende der Amtszeit habe begonnen, „am Sonntagabe­nd um 18 Uhr“. Für sich und die Sozialdemo­kraten schloss er erneut den Eintritt in eine große Koalition aus. „Es ist eindeutig, dass die Deutschen keine Fortsetzun­g der großen Koalition gewollt haben“, sagte er und dabei kann er auch auf den Rückhalt der Genossen in NRW zählen. In einer Mitglieder­befragung per Mail wollten sie in NRW nach der Wahl spontan die Stimmung in der Partei testen. 2000 antwortete­n bereits, viele Mitglieder hätten sich gegen eine große Koalition ausgesproc­hen, sagte Groschek. Die Antworten sollen in einer Klausur am Wochenende ausgewerte­t werden.

Mit seiner Ablehnung will Schulz Stärke zeigen, sich auf die Opposition konzentrie­ren und der Partei Zeit zur Erneuerung geben. Bis zum Bundespart­eitag im Dezember solle in mehreren Klausursit­zungen und auf acht Regionalko­nferenzen beraten werden, sagte Schulz. Auf die Frage, ob er beim Parteitag erneut als Vorsitzend­er kandidiere, antwortete er knapp mit „Ja“. Die Fronten sind also klar für jeden, der Schulz’ Führung infrage stellen soll- te. Doch so weit ist es noch nicht. Zuvor stellt sich in der SPD noch die Frage, was eigentlich geschieht, wenn der von Schulz prognostiz­ierte Fall nicht eintrifft und die Sondierung­sgespräche für ein JamaikaBün­dnis scheitern. Oder wenn die Mitglieder etwa der Grünen dagegen sind. Dann gibt es nur zwei Optionen: Entweder tritt die SPD doch in eine große Koalition mit der Union ein – oder es gibt Neuwahlen.

Eine erneute Abstimmung, da ist man sich in Berlin sicher, würde jedoch nur ein neues historisch­es Debakel hervorbrin­gen. Die SPD könnte dann noch unter die 20,5 Prozent rutschen. Ist das wirklich einer großen Koalition vorzuziehe­n? Offiziell sagt dazu in der jetzigen Situation natürlich niemand etwas – die klare Sprachrege­lung lau- tet: Opposition und sonst nichts. Und doch könnte die große Koalition noch einmal in Betracht kommen, ist von Parteistra­tegen auch am Tag nach der Wahl in der SPDParteiz­entrale zu hören. Deswegen, weil in einem Scheitern von Jamaika die einmalige Chance für die SPD läge, Merkels Rücktritt zu fordern. Frei nach dem Motto: Niemand will Neuwahlen, ihr wollt die große Koalition, dann opfert die Kanzlerin.

Ob sich die Union darauf einließe, ist fraglich. Allerdings läge der Ball im Feld von Merkel. In der SPD ist man sich aber ebenso klar darüber, dass zuvor bereits in der Union eine Debatte über Merkels Führung nötig wäre. Dass die weiter beliebte Kanzlerin gehen muss, dürfe nicht nur an der SPD liegen, das könne einem ja auf die Füße fallen.

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FOTO: REUTERS „Es ist Zeit“: Die Sozialdemo­kraten fragen sich, wohin ihr Weg nun führt. Der Vorsitzend­e Martin Schulz erteilte einer Koalition mit der Union eine Absage.

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