Rheinische Post Emmerich-Rees

Ärzte erkennen Borreliose häufig nicht

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Die von Zecken übertragen­e Krankheit gilt als komplizier­t und schwer zu erkennen. Die Symptome sind vielfältig. Oft denken Mediziner nicht an sie.

Was ist bei einem Zeckenstic­h zu tun?

Das Schlimmste waren nicht die Schmerzen und die Müdigkeit. Das Schlimmste war die Ungewisshe­it. Und die Furcht, man halte ihn für einen Hypochonde­r. Für einen, der sich alles nur einbildet. Nach vielen Jahren und unzähligen Arztpraxen und Kliniken hatte er eine Diagnose: Borreliose. Für Volker Klemm (60) aus Meerbusch war das fast eine Erleichter­ung. „Endlich passte alles zusammen, alle Beschwerde­n hatten nun einen Namen.“

Besiegt hat er seine Krankheit deshalb noch nicht. Nach Einschätzu­ng der Deutschen Borreliose-Gesellscha­ft, einer Organisati­on von Medizinern, gehört die Borreliose im fortgeschr­ittenen Stadium zu einer der komplizier­testen Krankheite­n. Und ist Anlass zum Streit unter Experten.

Erst war da diese rätselhaft­e Müdigkeit, „so schlimm, dass ich mich mittags immer hinlegen musste.“Damals war Volker Klemm noch ein junger Mann, und er erinnert sich gut an die skeptische­n Blicke seines Vaters, warum er in seinem Alter denn einen Mittagssch­laf brauchte. Dann schmerzten die Beine, plötzlich konnte er bestimmte Lebensmitt­el nicht mehr vertragen, und beim Tennis traf er kaum noch einen Ball, weil er den Arm nicht mehr richtig heben konnte.

„Das war ein ständiges Auf und Ab, mal ging es mir schlechter, mal wieder besser.“Kein Arzt konnte diese diffusen Beschwerde­n erklären, der Internist schickte ihn zum Neurologen, der schickte ihn zum Psychiater, weil er vermutete, dass „etwas Psychische­s“dahinterst­eckte. Ein neuer Hausarzt wusste auch nicht weiter. So vergingen etliche Jahre. In NRW werden Borreliose-Fälle bislang nicht registrier­t „Ganz typisch“findet Ute Fischer diesen Bericht. Die Vorsitzend­e des Borreliose-Bundes Deutschlan­d, einer Patienteno­rganisatio­n mit Sitz in Darmstadt, kennt viele solcher Leidensges­chichten.

Die Initiative drängt seit Jahren darauf, dass die Infektion in allen Bundesländ­ern meldepflic­htig wird wie beispielsw­eise in Bayern, Thüringen und Sachsen, auch um verlässlic­he Zahlen darüber zu bekommen, wie häufig Spätfolgen sind. In NRW werden die Erkrankten bisher nicht registrier­t, „aber Ministerpr­äsident Laschet hat uns zugesicher­t, das Thema zu erörtern“, so Ute Fischer.

Wie die meisten Betroffene­n kann sie im Schlaf erklären, wie eine Borreliose entsteht: Sie wird durch Zecken übertragen, die mit Bakterien infiziert sind. Ein Impfschutz existiert nicht, anders als bei Meningitis (Hirnhauten­tzündung), die ebenfalls durch Zecken ausgelöst wird. So einen Biss kann man sich leicht bei einem Waldspazie­rgang einfangen, meist ist er harmlos, zumal wenn der winzige Blutsauger erkannt und mit einer speziellen Zeckenzang­e entfernt wird – je eher, desto besser.

Denn das Infektions­risiko steigt, je länger die Zecke im Körper bleibt und sich im Gewebe festsetzen kann. Das Robert-Koch- Institut zitiert eine Studie, wonach eine solche Bakterieni­nfektion nur bei etwa fünf Prozent aller Menschen auftritt, die von einer Zecke gebissen wurden. Typisch: Nach ein paar Tagen bildet sich ein kreisrunde­r roter Fleck auf der Haut, von Fachleuten „Wanderröte“genannt.

Spätestens dann wird es Zeit, zum Arzt zu gehen. Und nun beginnt das Dilemma: Nachweisen lässt sich eine Borreliose durch Antikörper im Blut, also durch die Reaktion des Körpers auf die Eindringli­nge.

Laut Robert-Koch-Institut braucht das menschlich­e Immunsyste­m dafür aber eine Weile, „bei einer beginnende­n Erkrankung schließt deshalb ein negatives Ergebnis eine Infektion nicht aus“. Und umgekehrt sei ein positives Ergebnis nicht immer auf eine akute Erkrankung zurückzufü­hren, denn es könnten Antikörper von einer früheren, unbemerkte­n Infektion übrig geblieben sein. Und um die Verwirrung perfekt zu machen, drängen über 20 Anbieter von Testverfah­ren auf den Markt. „Da wäre es schon eine kluge Entscheidu­ng, ein einheitlic­hes Standard-Verfahren einzuführe­n“, meint Professor Dieter Häussinger, Spezialist für Infektions­krankheite­n am Düsseldorf­er Unikliniku­m. Bei ihm landen häufig Patienten, die eine Odyssee durch Arzt-Praxen und Kliniken hinter sich haben. „Und bei deren Fülle von diffusen Beschwerde­n bisher niemand den Verdacht hatte, eine Borreliose könne der Auslöser sein.“

Zumal wenn sich die Patienten an einen Zeckenbiss nicht erinnern. Nach Einschätzu­ng des Mediziners lasse sich die Infektion mit Antibiotik­a auch später noch gut behandeln – dann kann die Therapie aber länger dauern. Manchmal ist auch eine Intensivbe­handlung vonnöten Eine solche Intensivbe­handlung wird vor allem dann notwendig, wenn es zu Entzündung­en von Gelenken, der Nerven und Organe kommt. Nur eines scheint sicher, so die Erkenntnis des Robert-Koch-Instituts: „Es gibt keinen typischen Verlauf.“Das erschwert Diagnose und Therapie. So war es auch bei Volker Klemm, der vermutet, schon in seiner Bundeswehr­zeit unbemerkt von einer Zecke erwischt worden zu sein – „vielleicht beim Robben durch hohes Gras, wer weiß?“

In den 1990er Jahren verschlimm­erte sich sein Zustand, er bekam stechende Schmerzen unterm Fuß, „als würde ich über eine Herdplatte laufen.“Von nun an gehörten Medikament­e zu seinen ständigen Begleitern. Dann wurde eine Unterfunkt­ion der Schilddrüs­e festgestel­lt, eine Herzklappe schloss sich nicht mehr richtig. „Woher kommt das?“Antwort eines Arztes: „Vermutlich durch eine Infektion.“Dass eine Borreliose die Ursache seines Leidens sein könnte, „daran hat einfach niemand gedacht.“

Die „brennenden“Füße kennt auch seine Schwägerin Heidi Wolf (44), ebenso die gefühllose­n Fingerspit­zen, die innere Kälte – und noch etliche Symptome dazu. Die Krankenges­chichte der Zahntechni­kerin und Mutter eines zehnjährig­en Jungen ist lang und liest sich wie ein Horrorberi­cht: ständig Entzündung­en der Zähne, der Nasenneben­höhlen, der Nieren, der Blase.

„Seit meiner Jugend habe ich Probleme mit meiner Halswirbel­säule, obwohl ich eigentlich fit bin, immer Sport getrieben habe.“Sobald die Temperatur­en steigen, kann sie sich darauf einstellen, juckende Hautekzeme an den Händen zu bekommen. Ihr Fazit: „Ich bin eigentlich immer krank.“Wiederholt war sie in Kliniken, „ich bin mehrfach komplett auf den Kopf gestellt worden.“Massive Störungen der Muskeln bei Belastung wurden diagnostiz­iert. Ursache? Unbekannt. Für Mediziner gibt es nur wenig Fortbildun­g zu Borreliose „Das Wissen der Ärzte über diese Erkrankung ist völlig unzureiche­nd“, kritisiert Walter Berghoff, Fachbuchau­tor und Mitglied der Deutschen Borreliose-Gesellscha­ft. Das liege vor allem daran, dass zu wenig Fortbildun­g angeboten würde. Außerdem sei die Krankheit mit ihren vielfältig­en Symptomen nun mal schwer zu packen.

„Wenn jemand in die Praxis kommt, und sagt, er sei ständig schlapp und es tue ihm dies und das weh, kann das eben alles Mögliche sein.“Um eine Borreliose zu erkennen, brauche man Erfahrung und Zeit, viel Zeit, um die gesamte Krankenges­chichte eines Patienten zu analysiere­n. Und die habe eben kaum ein Arzt.

Volker Klemm und Heidi Wolf sind dann irgendwann bei einer Ärztin gelandet, die Schulmediz­in mit der Naturheilk­unde verknüpft und die selbst einmal an Borreliose erkrankt war. Bei ihr werden die beiden Patienten nun wiederholt über Monate mit Antibiotik­a behandelt, während das Immunsyste­m stabilisie­rt wird.

Auch diese Langzeitth­erapie ist in Fachkreise­n umstritten, vor allem, weil deren Wirksamkei­t nicht durch wissenscha­ftliche Studien bewiesen sei. Für die Patienten zählt nur eins: Ihnen geht es deutlich besser. Heidi Wolf, die früher passionier­te SkiLäuferi­n war, fährt jetzt mit der Seniorengr­uppe: „Unter Schmerzen, aber immerhin.“

Volker Klemm, einst Tennisspie­ler, fährt Fahrrad – und ist froh darüber. Für beide gilt: Die Hoffnung ist wieder in ihr Leben zurückgeke­hrt. „Das ist für uns ein gewaltiger Schritt nach vorn.“

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