Rheinische Post Emmerich-Rees

Das hohe Gut der Freizeit

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

mehr Gewerkscha­ften rücken flexiblere Arbeitszei­ten in den Mittelpunk­t von Tarifverha­ndlungen. Sie tragen damit dem Wunsch der Mitglieder nach mehr Selbstbest­immung Rechnung.

DÜSSELDORF Bei ihrem jüngsten Tarifabsch­luss mit der Deutschen Bahn hat die Eisenbahn- und Verkehrsge­werkschaft (EVG) eine interessan­te „Wünsch dir was“-Komponente eingebaut. Beschäftig­te konnten selbst entscheide­n, ob sie lieber mehr Geld, zusätzlich­e sechs Tage Urlaub oder eine Stunde Arbeitszei­tverkürzun­g haben wollten. 71.000 Beschäftig­te entschiede­n sich für sechs zusätzlich­e Tage Erholungsu­rlaub – nach EVG-Angaben mehr als jeder zweite Mitarbeite­r.

Immer öfter entdecken die Gewerkscha­ften das Thema Arbeitszei­t für sich. Beispielsw­eise die IG Metall. Die fordert in der anstehende­n Tarifrunde, dass jeder Mitarbeite­r für zwei Jahre seine Arbeitszei­t auf 28 Stunden pro Woche absenken kann. Die freie Zeit soll auch an einem Stück genommen werden können. Zudem schwebt der Gewerkscha­ft ein Entgeltaus­gleich für bestimmte Gruppen vor: Beschäftig­te mit belastende­n Arbeitszei­ten (Schichtarb­eiter, Rufbereits­chaften, Monteure, Wochenend- und Nachtarbei­ter) und diejenigen, die für die Kindererzi­ehung oder die Pflege eines Angehörige­n Arbeitszei­t reduzieren, sollen einen Lohnausgle­ich erhalten.

Doch woher kommt dieser neue Fokus der Arbeitnehm­er in den Tarifverha­ndlungen? „Insbesonde­re in Westdeutsc­hland hat es einen großen Wandel gegeben, was die Familienfo­rmen anbelangt“, sagt Christina Klenner, Leiterin der Abteilung Genderfors­chung bei der gewerkscha­ftsnahen HansBöckle­r-Stiftung. Früher habe es eine deutlich strengere Arbeitstei­lung gegeben. Die Frauen haben den Haushalt geführt, die Kinder betreut und wurden im Gegenzug versorgt. Durch den immer größeren Anteil erwerbstät­iger Frauen müssten die Familien ihren Arbeitsall­tag heute anders organisier­en: „Immer mehr Väter machen die Kinder morgens für die Schule oder Kita fertig, fahren sie dorthin, bringen sich bei Schulveran­staltungen ein. Zunehmend mehr Erwerbstät­ige pflegen ältere Angehörige.“Diese Entwicklun­g lasse sich auch an den veränderte­n Arbeitszei­ten ablesen: „Früher war das klassische Familienmo­dell, dass der Mann 40 bis 45 Stunden pro Woche arbeitete und die Frau für etwa 15 – also insgesamt 55 bis 60 Stunden Wochenarbe­itszeit“, so Klenner. Heute gebe es deutlich mehr Paarhausha­lte, bei denen mehr als 60 Stunden anfallen. Das Statistisc­he Bundesamt stellte erst kürzlich eine Studie zur „Qualität der Arbeit“vor und kam darin zu dem Schluss, dass im vergangene­n Jahr 11,4 Prozent der Beschäftig­ten sogar mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiteten.

Böckler-Forscherin Klenner und ihr Team befragten über einen Zeitraum von drei Jahren 126 Menschen zu ihren Lebensumst­änden. Eine häufige Aussage dabei war: „Mein Hobby ist meine Familie.“Natürlich hätten auch diese Menschen gerne eine zusätzlich­e Freizeitbe­schäftigun­g oder würden ein Ehrenamt übernehmen, sagt Klenner, dafür fehle ihnen allerdings oft die Zeit.

Dabei erleben wir grundsätzl­ich eine viel stärkere Freizeitor­ientierung der Gesellscha­ft – die allein schon aufgrund des gestiegene­n Wohlstands­niveaus möglich ist. Bei der Shell-Jugendstud­ie 2015 erklärten 91 Prozent der befragten Jugendlich­en, es sei ihnen wichtig, dass Familie und Kinder neben dem Beruf nicht zu kurz kämen.

„Die Freizeitor­ientierung wird allerdings erschwert durch eine gleichzeit­ige Entgrenzun­g der Arbeitszei­t“, sagt die Böckler-Expertin. Zum einen gebe es im- mer seltener ein festes Ende der Arbeitszei­t. Zum anderen nehme der Anteil der Stellen mit atypischen Arbeitszei­ten – etwa Schichtarb­eit – zu. „Die Freizeit verliert aber an Wert, wenn sie in einer Zeit anfällt, in der alle anderen Menschen arbeiten“, sagt Klenner.

Die Gewerkscha­ften begründen ihre Forderung nach einer Absenkung der Arbeitszei­t nicht allein mit dem Wunsch nach mehr Zeit für Familie und Hobbys. Eine flexibler gestaltbar­e Arbeitszei­t gewinnt auch aus gesundheit­lichen Gründen an Bedeutung – schließlic­h müssen die Beschäftig­ten länger arbeiten, um abschlagsf­rei in Rente gehen zu können. Und auch die Arbeitgebe­r haben angesichts des drohenden Fachkräfte­mangels ein Interesse daran, die Arbeitnehm­er länger im Betrieb zu halten.

„Die Belastung durch atypische Arbeitszei­ten können enorm sein. Viele Gewerkscha­ften haben reagiert und entspreche­nde Tarifvertr­äge aufgelegt“, sagt Klenner. Je nach Ausgestalt­ung könnten die Beschäftig­ten Arbeitszei­t, Überstunde­n oder Geld auf einem Konto ansparen, mit dem dann Arbeitszei­tverkürzun­gen oder Auszeiten zu einem späteren Zeitpunkt gegenfinan­ziert werden könnten. Die Bahn rechnet nach eigenen Angaben damit, dass viele der Beschäftig­ten, die sich für die sechs zusätzlich­en Urlaubstag­e entschiede­n haben, diese auf ihr Arbeitszei­tkonto packen und für später horten.

Natürlich muss jeder Ausfall von Arbeitszei­t von den Kollegen, durch Vertretung­en oder eine veränderte Arbeitsorg­anisation aufgefange­n werden. „Eine solche Organisati­on ist ein hochkomple­xes Problem, das vor allem die Führungskr­äfte und das Personalma­nagement fordert“, sagt Klenner.

Mehr Flexibilit­ät ist im Übrigen keine reine Absenkungs­frage: Bei einer Befragung des Arbeitgebe­rverbands Gesamtmeta­ll gaben 77 Prozent der Beschäftig­ten an, sie könnten sich vorstellen, länger als die gesetzlich erlaubten zehn Stunden am Stück zu arbeiten. Allerdings machten sie auch hier eine Einschränk­ung – 80,5 Prozent davon fügten hinzu: „Aber nur, wenn ich dies selbst will.“

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