Rheinische Post Emmerich-Rees

Der Mann, der Adolf Hitler im Ersten Weltkrieg nicht erschoss

- VON TOBIAS JOCHHEIM

LONDON Als der britische Soldat Henry Tandey, 27 Jahre alt, am 28. September 1918 im französisc­hen Marcoing sieht, dass der deutsche Soldat, der vor seinen Augen verletzt aus einem Schützengr­aben kriecht und nicht einmal versucht, sein Gewehr zu heben, senkt er seine eigene Waffe und lässt ihn laufen. Historisch relevant wäre das nicht – hätte Adolf Hitler nicht behauptet, der so verschonte Deut- sche sei er selbst gewesen. Fakt ist: Das Gemälde „Die Kreuzung von Menin“, das die Kameradsch­aft britischer Soldaten zeigt, darunter auch Henry Tandey, hing auf Hitlers Berghof Obersalzbe­rg. „Der Mann im Vordergrun­d war 1918 so nahe dran, mich zu töten, dass ich dachte, ich würde Deutschlan­d niemals wiedersehe­n“, soll Hitler erklärt haben. Nur die „Vorsehung“habe ihn gerettet. Das Schicksal. Gott.

Das ist beinahe ausgeschlo­ssen, denn Hitlers Einheit war am fragli- chen Tag rund 80 Kilometer von Tandey entfernt. Und selbst falls es das Treffen gegeben hätte, hätte Hitler Tandey kaum wiedererka­nnt – wie auch, nach wenigen Sekunden, in denen das Gesicht des Briten unter Schlamm und Blut kaum zu erkennen gewesen sein dürfte?

Tandey bestätigte das Vorkommnis nur ein einziges Mal, 1940, unmittelba­r nach einem verheerend­en deutschen Bombenangr­iff. Hitler „damals nicht geschont zu haben“, täte ihm „vor Gott leid“, erklärte er, wohl unter Schock und auf Druck eines Reporters. Nur zu gern gäbe er „zehn Jahre meines Lebens, hätte ich damals fünf Minuten lang in die Zukunft sehen können“. Als 49-Jähriger versucht er erfolglos, sich noch einmal zur Armee zu melden – aus einem Schuldgefü­hl heraus?

Im Museum von Tandeys Einheit heißt es, die Hitler-Geschichte sei „wohl mehr Mythos als Wahrheit“. Kurator Steve Erskine betont ihren tragischen Aspekt: „Henry Tandey lebte lange in dem Bewusstsei­n, dass ihn manche für den Zweiten Weltkrieg verantwort­lich machten.“

Dabei war Tandey ein Kriegsheld, der höchstdeko­rierte britische Soldat des Ersten Weltkriegs. Just am Tag der angebliche­n Begegnung hatte er sich das Victoria Cross verdient, den höchsten militärisc­hen Orden, für außergewöh­nliche Tapferkeit im Angesicht des Feindes: Unter deutschem Beschuss hatte er eine wichtige Brücke repariert.

Diesen Ruhm wollte Hitler für sich nutzen – mit einem Märchen.

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FOTO: GREEN HOWARDS MUSEUM Henry Tandey

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