Viele Insolvenzkanzleien sind angesichts rückläufiger Pleitezahlen in die Sanierungsberatung eingestiegen. Offen diskutieren Experten, wann die Insolvenzzahlen wieder steigen werden. Problem für viele Unternehmen: Billiges Geld verdrängt notwendige Sanier
„In den kommenden drei Jahren werden die Insolvenzzahlen sicherlich noch weiter sinken.“Mit dieser Prognose eröffnet Dr. Dirk Andres (AndresPartner), einer der am häufigsten bestellten Insolvenzverwalter in Deutschland, die Diskussion über die Markteinschätzungen. Spektakuläre Fälle wie die Pleiten von Air Berlin oder Solarworld stünden dem nicht entgegen, der Markt werde für Verwalter enger, der Insolvenzmarkt sei rückläufig.
Eine Konsequenz: „Die Kanzleien stellen sich breiter auf, um ihre Kapazitäten auszulasten“, beobachtet Michael Hermanns (Buth & Hermanns). Die Häuser bieten „intensivere Beratung in vorinsolvenzlichen Phasen an“. Da sich Deutschland im wirtschaftlichen Aufwind befinde, gehen nach Beobachtung von Robert Buchalik (Buchalik Brömmekamp) aber auch die Sanierungsfälle zurück, „der Wettbewerb steigt auch dort“, damit sinken nach seiner Wahrnehmung auch die Preise, sprich Honorare.
Dr. Wolf-Rüdiger von der Fecht (Kanzlei von der Fecht) weist darauf hin, dass die Reform des Insolvenzrechts das Ziel erreicht habe, früher, vor der Insolvenz, zu restrukturieren. „Das liegt im Sinne des Gesetzgebers und der Branche.“Kanzleien stünden nun aber vor der großen Herausforderung, ihr Geschäftsmodell anzupassen und sich gegen den Verdrängungsdruck am Markt zu behaupten.
Anders als Andres hält es Dr. Guido Krüger (Beiten Burkhardt) durchaus für möglich, dass der aktuelle Wirtschaftszyklus früher endet. „Situationen wie in den Jahren 2001 oder 2008/9 können schneller eintreten, als jetzt erwartet wird.“„Die Decke wird dünner“, meint auch Urs Breitsprecher (Mütze Korsch), „irgendwann hilft auch das billige Geld nicht mehr“. Die Liquiditätsflut führe derzeit dazu, dass Geldgeber auch in marode Unternehmen investieren. Gleichzeitig drängen viele Sanierer in den Markt, da werde sich noch „die Spreu vom Weizen trennen“.
Ähnliches erwartet Hermanns: „Bei der nächsten Krise wird es einschneidende Veränderungen geben.“Viele Mittelständler hätten eine schwache Eigenkapitaldecke, „und die Krise des Jahres 2008 war noch 2006 auch nicht erwartet worden.“
Die Marktentwicklung sei schwer zu beurteilen, meint hingegen Dr. Paul Fink (FRH Fink Rinckens Heerma): „Wir müssen uns darauf einstellen, dass es auch länger dauern könnte.“Insolvenz- und Sanierungskanzleien müssten daher genau das tun, was sie auch ihren Mandanten empfehlen: effizienter arbeiten und die Auswirkungen der Digitalisierung beachten.
„Belastbare Planungen sind für die Restrukturierungsbranche schwierig“, ist auch Dr. Marc d’Avoine (d’Avoine Teubler Neu) überzeugt. Externe Einflüsse seien schwer vorherzusagen. Allerdings gebe es Faktoren, die dafür sorgen, dass es für Sanierer und Verwalter immer Arbeit gebe. Dazu zählt d’Avoine wirtschaftliche Verwerfungen im Energiesektor, Umwelt- und Terrorgefahren.
Wer ist besser für dieses Marktumfeld aufgestellt: große oder kleine Kanzleien? „Derzeit haben große Einheiten Vorteile“, meint Dr. Marco Wilhelm (Mayer Brown). „Sie sind nicht auf einzelne Geschäftsfelder fokussiert.“Auch er geht davon aus, dass es unterm Strich genug Tätigkeitsfelder für die Anwälte gibt. So sehe man derzeit bei Käufen bzw. Verkäufen von Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Fachbegriff: Distressed M&A) Steigerungsraten, wofür größere Anwaltskanzleien prädestiniert seien. Da es aber wegen des billigen Geldes derzeit wenige harten Sanierungen gebe, werde der nächste Einschlag umso härter ausfallen.
In den nächsten Jahren werde die Zahl der Insolvenzen nicht signifikant steigen, widerspricht Buchalik. Die Konjunktur laufe gut, die Arbeitslosigkeit sinke, und die Unternehmen hätten ihre Eigenkapitalausstattung verbessert.
Eine Konsequenz aus der aktuellen Entwicklung scheint aber unwiderruflich zu sein: „Die Weltentrennung ist Vergangenheit“, umschreibt von der Fecht die Konvergenz von Beratung, insolvenzlicher und vorinsolvenzlicher Sanierung. „Alle haben einen Restrukturierungsauftrag. Die Insolvenz ist eine Funktion der Restrukturierung geworden.“
Eine Frage beschäftigt die Unternehmen ebenso wie ihre Berater und Sanierer: Wie wirkt sich der Wandel der Paradigmen aus, zum Beispiel die Digitalisierung? „Große Unternehmen werden den Technologiewandel bewältigen“, glaubt Lars Hinkel (anchor Rechtsanwälte), „aber viele Zulieferer aus der Old Economy, zum Beispiel Kolbenhersteller in der Automobilbranche, werden das nicht schaffen“. Auf Verwalter und Sanierer werde daher in den kommenden fünf bis zehn Jahren viel Arbeit zukommen. Andres beobachtet hingegen gerade in der Automobilbranche, dass sich viele Unternehmen jetzt schon gut für die Zukunft vorbereiten. Auch aus der zweiten oder dritten Reihe würden Betriebe neue Geschäftsfelder zum Beispiel in der Elektromobilität oder der Energiebranche suchen. „Einige werden nicht überleben, aber ich sehe keine große Pleitewelle kommen.“
Bleibt noch die Frage, wie sich die Rahmenbedingungen weiterentwickeln. Nach einem Brexit werde die Unternehmenssanierung im Wege des „Scheme of Arrangement“nach englischem Recht wohl nicht mehr attraktiv sein, der Sanierungsstandort Deutschland werde für vorinsolvenzliche Sanierungen an Bedeutung gewinnen, nennt Joachim Kühne (CMS Hasche Sigle) ein Beispiel für neue Entwicklungen. Generell seien Konsequenzen der Internationalität und Globalisierung immer deutlicher zu spüren. So mache sich bemerkbar, dass zunehmend Investoren aus den USA oder Großbritannien in deutschen Sanierungsverfahren als Beteiligte auftreten. Eine Auswirkung der Internationalität scheint in Deutsch- land aber noch nicht angekommen zu sein: „Die strategische Insolvenz ist in der deutschen Öffentlichkeit noch immer ein No-Go“, stellt Dr. Matthias Kampshoff (McDermott Will & Emery) fest. Gegen die in anderen Ländern durchaus übliche Praxis, Tochtergesell- schaften in Insolvenz zu schicken, um sie für den Konzern zu retten, intervenieren hierzulande insbesondere die Konzernbetriebsräte. Und Breitsprecher bedauert, dass die Restrukturierung in Eigenverwaltung nach dem neuen ESUG-Recht im deutschen Mittelstand immer noch zu wenig Akzeptanz finde. „Wir müssen hier noch mehr die Vorteile herausstellen“, sagt Breitsprecher.
Wie sich neue Trends auf die Wirtschaft auswirken, kann der Sicherheitsexperte Uwe Gerstenberg (consulting plus) aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchten. Er berät Unternehmen rund um sensible Sicherheitsthemen im Kontext globaler Veränderungen. Fragen der Datensicherheit bestimmen nach seiner Einschätzung die Zukunft ebenso wie Fortschritte in der künstlichen Intelligenz. In vielen Bereichen sehe man exponentielle Entwicklungen, zum Beispiel in der Mobilität oder in der Medienwelt. „Die Geschwindigkeit wird zunehmen, es bleibt immer weniger Zeit für Reaktionen“, warnt Gerstenberg. „Wir leben in einer Gesellschaft, die deutlich weiter ist, als wir in unseren Gesellschaftsmodellen sehen.“
Weitere Berichte zum RPWirtschaftsforum „Insolvenz & Sanierung“auf den Seiten 4 und 5.
„Die Kanzleien stellen sich breiter auf, um ihre Kapazitäten auszulasten“