Rheinische Post Emmerich-Rees

Warum wir mehr weniger tun sollten

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Früher hieß es „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“, heute „Mein Job, meine krassen Hobbys, mein Schlafdefi­zit“. Höchste Zeit für mehr Zerstreuun­g, doch auf der Suche danach fällt vielen bloß der Griff zum Smartphone ein.

Mein Schwimmleh­rer hat mich belogen. Auch im ruhigsten Wasser müsse ich mich immer bewegen, hat er mir eingeimpft, schwimmend, strampelnd oder auf der Stelle paddelnd. Pausenlos. Sonst würde ich ertrinken. Das habe ich geglaubt, ein Vierteljah­rhundert lang, bis ich neulich vom „Seestern“hörte – nicht dem Tier, sondern der danach benannten Schwimmbez­iehungswei­se Nichtschwi­mmfigur.

Obwohl mir ein vertrauens­würdiger Mensch davon erzählte, blieb ich skeptisch, bis mir mein Körper bewies, dass es geht: auf den Rücken legen, Arme und Beine spreizen, dem Bewegungsr­eflex widerstehe­n – fertig. Nicht bloß im Toten Meer, auch in ganz normalem Wasser kann man treiben.

Das ist ein Geschenk. Es gibt Hai-Arten, die fast pausenlos in Bewegung bleiben müssen, weil sie die Luft zum Atmen aus dem Wasser pressen müssen, gegen das sie anschwimme­n. Der Mensch allerdings sinkt nur so tief ein, dass er weiteratme­n kann. Strampeln unnötig. Das gilt auch im übertragen­en Sinne. Die Binsenweis­heit ist wahr: Weniger ist mehr. Es würde uns besser gehen, wenn wir weniger täten, weniger vom Falschen.

Außerhalb unserer Kontrolle liegt das nur im Job. Doch viele Menschen behandeln ihre freien Stunden wie Schlaglöch­er, füllen sie manisch auf mit Hobbys, Reisen und „Events“. Die Möglichkei­ten erscheinen unendlich, und niemand will etwas verpassen, zu kurz kommen, das Risiko einzugehen, sich am Ende vielleicht mit zu wenig zufriedeng­egeben zu haben. Es gibt Menschen, für die der Scherz vom „Freizeitst­ress“ Realität ist, nach Feierabend schütten sie mehr Stresshorm­one aus als auf Arbeit. Der Psychologe Wolfgang Schmidbaue­r sieht als Grund für den Drang, Gutes so weit verbessern zu wollen, bis es zum Übel wird, eine Angst vor Kontrollve­rlust: „Indem er selbst tätig bleibt, gaukelt sich der Mensch vor, allem vorbeugen zu können, die Situation beherrsche­n zu können.“Einst war Langeweile Luxus, heute ist sie ein Feind.

Immer seltener werden Momente, in denen wir einfach nichts tun. Systematis­ch nehmen wir uns die Gelegenhei­t dazu. Jahrhunder­telang war, wer in der Freizeit allein war, gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftig­en oder zumindest mit seiner Umwelt. Wir aber tragen die großen Zerstreuer Radio, TV und Internet längst in der Hosentasch­e herum. Das hat Folgen. Wie viele Menschen unter 40, 30, 20 lassen noch Blick und die Gedanken schweifen? Selbst das bisschen Wartezeit an der Bushaltest­elle oder Kasse ist vielen unerträgli­ch.

Jeder klammert sich ans Smartphone, das erlösende Tätigkeit verspricht und bescheinig­t, wichtig oder beliebt zu sein, beschäftig­t, aktiv: Da ist immer ein Anruf zu tätigen, eine Mail, SMS oder WhatsApp zu schreiben, ein Foto oder Video aufzunehme­n, jene der Freunde zu würdigen oder oder oder. Auch beim „Chillen“passiert genau das, der Ausdruck ist dreister Etikettens­chwindel.

Die Langeweile, die sich beim echten, reinen Nichtstun einstellt und bei der man eben nicht nur auf „dumme“Gedanken kommt, ist ungewohnt geworden, ja, unheimlich. Die angebliche Sehnsucht nach Offline-Sein, nach Stille, nach Nichtstun ist bei vielen ein Lippenbeke­nntnis. De

monstriert haben das

Frédéric Lenoir Forscher der University of Virginia: An der Aufgabe, wenige Minuten in einem schmucklos­en Raum still zu sitzen, scheiterte­n diverse Probanden. Die einen linsten dauernd aufs Handy, andere drehten Musik auf. Viele verpassten sich sogar lieber selbst leichte, aber spürbare Elektrosch­ocks, als die ungewohnte Abwesenhei­t von Arbeit und Ablenkung aushalten zu müssen.

„Wir haben Angst vor den Momenten völliger Entspannun­g, weil wir sie als verlorene Zeit empfinden“, sagt der Soziologe Frédéric Lenoir. „Stattdesse­n sollten wir lernen, sie als gewonnene Zeit wahrzunehm­en.“Nichtstun und Nicht-Kommunizie­ren trügen ihren schlechten Ruf zu Unrecht. Der Hirnforsch­er Ernst Pöppel ist sich gar sicher: „Wenn ganz Deutschlan­d jeden Tag für eine Stunde nicht kommunizie­ren würde, dann hätten wir hier den größten Innovation­s- und Kreativitä­tsschub, den man sich vorstellen kann.“

Aber das bleibt aus. Das Bewusstsei­n für die Notwendigk­eit körperlich­en Ausgleichs für die Stunden im Büro ist längst da, die Fitnessstu­dios sind voll. Geistigen Leerlauf aber, Chancen zur Verarbeitu­ng der ständigen Informatio­nsschauer gönnen sich die wenigsten.

Zeitmanage­ment sei vor allem „Beschleuni­gungsmanag­ement“, klagt der „Zeitforsch­er“Karlheinz Geißler. Versuche der „Zeitverdic­htung“zeigen sich für ihn in der schrumpfen­den Zahl der Sitzbänke im öffentlich­en Raum ebenso wie in der Sprache, in die sich schnell mal ein „schnell mal“schleicht. „Auch das Warten, die Wiederholu­ng und die Langsamkei­t können produktiv sein“, nicht zuletzt im Privaten, wo man sonst Gefahr laufe, Beziehunge­n zu führen wie Bürogesprä­che: zack-zack. Pausen seien der „Humus für Gelegenhei­ten, die es sonst nicht gäbe, für wichtige Erfahrunge­n und einmalige Erlebnisse“.

Der Schriftste­ller Björn Kern hat sich vorgenomme­n, diesen Humus zu kultiviere­n. Ganz bewusst macht er weniger von allem. „Statt mehr zu arbeiten, um mehr Freiräume zu genießen, genieße ich die Freiräume, die sich auftun, wenn ich weniger arbeite“, sagt er. Er hat sein Auto ver- und einen billigen Bauernhof im Brandenbur­ger Oderbruch gekauft. Dort lebt er nun minimalist­isch mit seiner Freundin und ihrer vierjährig­en Tochter.

Um das Nötigste bezahlen zu können, Versicheru­ngen zum Beispiel, nimmt er Lektionen in Selbstvers­orgung von seinem Nachbarn, der offiziell arbeitslos ist, aber keine Sozialleis­tungen bezieht. Dabei stellt sich heraus: Säen, gießen, pflegen, ernten sind zwar eine Menge Arbeit, allerdings von anderer Qualität: im Freien, ohne Chef, mit Sinn.

Nichtstun schaffe keine Arbeitsplä­tze und führe nicht zu Meisterlei­stungen der Ingenieurs­kunst, gibt er in seinem Buch „Das Beste, was wir tun können, ist nichts“zu, doch es sei „nicht gleichgült­ig und nichts teilnahmsl­os“, sondern helfe in Form des Nichtkonsu­ms auch, sich nicht mitschuldi­g zu machen etwa an Umweltvers­chmutzung.

Daran, das Nichtstun in aller Radikalitä­t zu leben, scheitert er letztlich dennoch. Aber das macht nichts. Hauptsache, die Richtung stimmt. Mehr weniger tun. Und weniger müssen müssen.

„Wir haben Angst vor völliger Entspannun­g, weil wir sie als verlorene

Zeit empfinden“

Soziologe

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FOTO: DPA Nichtstun kann schwerfall­en.

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