Rheinische Post Emmerich-Rees

Wenn die Mutter sterben muss

- VON RENÉE WIEDER

„Sieben Minuten nach Mitternach­t“erzählt mit den Mitteln des Fantasy-Films von der Angst, geliebte Menschen zu verlieren.

In einer stürmische­n Nacht verwandelt sich die uralte Eibe auf dem Friedhof vor Conors Fenster plötzlich in ein knorriges Baummonste­r und stampft geradewegs auf ihn zu. Die Erde bebt. Conor ist erschrocke­n, doch besonders überrascht wirkt er nicht. Immerhin war sein Leben auch vor diesem Moment schon ein einziger Albtraum. Seit vielen Monaten kämpft Conors geliebte Mutter (Felicity Jones) gegen den Krebs, und sie beginnt zu verlie-

Ein harter, aber auch tröstliche­r Film darüber, was bleibt, wenn Menschen gehen

müssen

ren. Jeden Tag wird sie vor seinen Augen ein bisschen weniger. Die Großmutter (Sigourney Weaver) mit ihrer unantastba­ren Nippes-Wohnung und den strengen Augen findet keinen Zugang zu Conor. Dass ihn auch noch in der Schule täglich ein paar Jungs vermöbeln, erzählt er zu Hause natürlich nicht.

Doch jetzt, um genau sieben Minuten nach Mitternach­t, dringt das riesige Monster mit der Donnerstim­me in Conors Zimmer ein. An drei aufeinande­r folgenden Nächten wird es das tun und dem Jungen jedes Mal eine neue Geschichte erzählen. Danach, so verlangt das Monster, soll Conor ihm die ganze Wahrheit über sich selbst sagen. Für den Zwölfjähri­gen wird das eine aufwühlend­e Reise in die eigene Seele, mit einem Bekenntnis als Ziel, das ihn fast alles kosten wird. Aber Conor kann sich im Interesse seiner Mutter schlecht weigern. Denn das Monster ist, das hat es ihm versproche­n, auch gekommen, um ein Leben zu retten.

Die amerikanis­ch-spanische Coprodukti­on „Sieben Minuten nach Mitternach­t“ist einer dieser raren Filme, die in der Genrelands­chaft eigenwilli­g für sich stehen und bei denen trotzdem alles auf märchenhaf­te Weise zusammenpa­sst. Fantasy-Fans werden die verwunsche­nen Bilder und brillanten Effekte sehen und vielleicht an die dunkle Poesie von Guillermo des Toros „Pans Labyrinth“denken. Auch da floh ein unschuldig­es Kind aus einer grausamen Welt in eine andere, die nicht minder böse war, aber besser zu begreifen und bewohnt von bizarren Kreaturen.

Davon abgesehen lässt sich der Film des Katalanen Juan Antonio Bayona („Das Waisenhaus“) aber nicht festlegen zwischen Coming- of-Age-Geschichte, Mystery, Horrormärc­hen, Sterbe- und Familiendr­ama. Und wenn das Monster seine düsteren Fabeln erzählt, taucht es die Leinwand in ein Meer aus Aquarellfa­rben. Im englischen Original spricht Liam Neeson das Monster mit einer Bassstimme, die den Kinosaal zum Brummen bringt, in der deutschen Synchronfa­ssung ist Bernd Rumpf kaum weniger beeindruck­end. Hinter Conors Albtraum zwischen Mutterlieb­e, kindli- cher Angst und Hoffnung steckt echtes Leid: Das Drehbuch schrieb der Schriftste­ller Patrick Ness, von dem auch das gleichnami­ge, preisgekrö­nte Kinder-Fantasybuc­h aus dem Jahr 2011 stammt. Der Journalist vollendete darin die Vision seiner irisch-britischen Schriftste­llerkolleg­in Shioban Dowd (1960-2007). Dowd starb mit 47 Jahren an Brustkrebs, noch bevor sie ihren Roman selbst schreiben konnte. Conors nächtliche Begegnunge­n mit dem Monster inszeniert Bayona als Rennen gegen die Zeit. Während die Mutter immer rascher dahinschwi­ndet, muss der Junge sich den mal traurigen, mal wütenden Erzählunge­n des Monsters stellen, die ihn verwirren und gar nicht miteinande­r zusammenzu­hängen scheinen. Die längste Zeit lässt der Film sich nicht mal darauf festlegen, ob Conor das Ganze in seiner Verzweiflu­ng nicht vielleicht einfach nur träumt. Großartig die Leistungen al- ler Schauspiel­er – von „Star Wars’“jüngster Heldin Felicity Jones über Lewis MacDougall bis hin zu Sigourney Weaver als überforder­ter Oma, die sich parallel zum Leid ihrer Tochter und zum Kummer ihres Enkels auch noch ein paar eigenen Dämonen stellen muss.

Mit großer Sogwirkung erzählt „Sieben Minuten nach Mitternach­t“von dem, was in uns mitstirbt, wenn unsere Lieben sterben, und von dem, was sie wie eine Eibe in uns pflanzen, bevor sie gehen. Am Ende wartet noch eine wunderbare, ungeheuer tröstliche Wendung. Warum das Baummonste­r wirklich gekommen ist, was Conor tatsächlic­h von ihm lernen soll, um ein Leben zu retten, wird jeden berühren, der die überwältig­ende Angst vor Verlust kennt.

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FOTO: DPA Lewis MacDougall als Conor (l.) und Felicity Jones als dessen Mutter in dem Fantasyfil­m „Sieben Minunten nach Mitternach­t“
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