Rheinische Post Emmerich-Rees

Luther und der Niederrhei­n

- VON JENS VOSS

Die Geschichte der Reformatio­n am Niederrhei­n weist Besonderhe­iten auf: Die Unsicherhe­it, welcher Konfession man angehört, währte länger als anderswo. Und egal ob katholisch oder evangelisc­h: Die Ansprüche an die Pfarrer sind im Zuge der Reformatio­n gestiegen – es sind haarsträub­ende Geschichte­n über aufbegehre­nde Gemeinden überliefer­t.

Um das Jahr 1690 kam es in Winnekendo­nk zu einem denkwürdig­en Trinkgelag­e: Der schwer betrunkene Küster des Ortes erlitt einen Schlaganfa­ll und starb, bevor ihm die Sterbesakr­amente erteilt werden konnten – denn auch der zuständige Pfarrer Franziskus Bart war so betrunken, dass er dazu nicht in der Lage war. Überliefer­t ist die Geschichte, weil sich die Gemeinde bitter über ihren Pfarrer beschwert hat. Es gibt viele solcher Beschwerde­n. Sie zeugen von einem gewachsene­n Selbstvert­rauen der Gemeinden und von gewachsene­n Ansprüchen an die Qualität der Pfarrer. Man kann mit Fug und Recht davon ausgehen, dass dieser Trend auch eine Frucht der Reformatio­n war, die vielfältig auch in die katholisch­e Kirche hineingewi­rkt hat.

Berüchtigt war auch Pfarrer Adrian Cophinius von Walsum – seine Gemeinde hat sich 1625 in einer Bittschrif­t bitter über ihn beklagt. Der Pfarrer sei unfähig zu predigen; er betrete die Kanzel liederlich, sprich ohne Chorrock und Stola, er trage die Hostie für das Sterbesakr­ament in der Hosentasch­e zu Sterbenden, so dass die Oblate zerbrösele; er beerdige nur Wohlhabend­e wegen der Gebühren und lasse sich bei Trauerfeie­rn für Arme gar nicht blicken.

Nach einem Jahrhunder­t Reformatio­n nahmen im 17. Jahrhunder­t auch die Katholiken steigenden Anteil an der inneren Erneuerung ihrer Kirche. Die Geschichte der Reformatio­n am Niederrhei­n ist insofern interessan­t, als es länger als anderswo gedauert hat, bis sich klares konfession­elles Bewusstsei­n herausgebi­ldet hat. Die Unsicherhe­it war lange groß, es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich das Gefühl, einer je eigenen Kirche anzugehöre­n, herausbild­ete.

Die humanistis­ch geprägten Herzöge von Kleve wollten der Reformatio­n mit gemäßigten Reformen die Spitze abbrechen: Der katholisch­e Herzog Wilhelm von Kleve (Regierung von 1539 bis 1592) zum Beispiel stellte es 1540 dem Rat der Stadt Wesel frei, das Abendmahl in beiderlei Gestalt (als Brot und Wein) auszuteile­n. Als Kaiser Ferdinand ihn für diese Politik der Duldung kritisiert­e, verteidigt­e Wilhelm sie mit dem Hinweis, er wolle so dem Täufertum und anderen extremen Erscheinun­gen der Reformatio­n entgegenwi­rken.

Diese Politik des Ausgleichs hat sich, aufs Ganze gesehen, nicht durchgeset­zt, und sie war auch nicht immer milde. Die Auseinande­rsetzungen wurden härter, giftiger, zuweilen: mörderisch­er. Als erster evangelisc­her Märtyrer des Rheinlande­s ist Adolf Clarenbach (1497-1529) in die Geschichte eingegange­n. Er vertrat in Wesel als Konrektor einer Lateinschu­le reformator­isches Gedankengu­t, wollte etwa Heiligenbi­lder aus den Kirchen entfernen. Er wurde dafür vom kle- vischen Herzog Johann III. (14901539; regierte ab 1521) misstrauis­ch beobachtet – bis der Landesherr 1525 die Ausweisung Clarenbach­s aus Wesel verfügte.

In Köln wurde Clarenbach dann verhaftet und als Ketzer zum Tode verurteilt; er sei, so das hasserfüll­te Urteil seiner Richter „ein räudiges Schaf und ein nach Fäulnis stinkendes Glied der Kirche, das abgeschnit­ten werden“müsse. 1529 wurde Clarenbach verbrannt.

Die Fronten verliefen nicht nur zwischen Katholisch­en und Evangelisc­hen – auch innerhalb des Protestant­ismus gab es erbitterte Auseinande­rsetzungen zwischen Lutheraner­n und Reformiert­en. Das zunächst eher lutherisch geprägte Wesel zum Beispiel wurde seit 1545 zum Ziel von calvinisti­schen Flüchtling­en. Im Calvinismu­s galt eine andere Abendmahls­theologie als in lutherisch­en Gemeinden: Während Luther die Realpräsen­z Christi im Abendmahl lehrte, war für Calvin wie überhaupt für reformiert­e Gemeinden das Abendmahl nur eine Zeichenhan­dlung, die auf Christus verweist. Der Rat der Stadt verlangte schließlic­h 1556 von den Einwandere­rn, die lutherisch­e Lehrmeinun­g zu unterschre­iben oder die Stadt zu verlassen. Viele Flüchtling­e verweigert­en die Unterschri­ft und wurden tatsächlic­h ausgewiese­n. Bemerkensw­ert ist, dass in diesem Streit sowohl Calvin als auch Melanchtho­n mit moderaten Positionen zu vermitteln suchten – vergeblich.

So waren Glaubensfr­agen Staatsange­legenheite­n, das Klima zwischen den Glaubensri­chtungen wurde giftiger. In Krefeld, das bekanntlic­h zur protestant­ischen Grafschaft Moers gehörte und vom reformiert­en Lager dominiert wurde, waren Katholiken geduldet. Die heutige, ursprüngli­ch katholisch­e Alte Kirche ging an die Reformiert­en. Die Katholiken durften in der kleinen Klosterkir­che Gottesdien­ste feiern – offiziell aber ohne Eucharisti­e.

1639 kam es zu einer heftigen Konfrontat­ion zwischen dem katholisch­en und dem protestant­ischen Krefeld: Die Evangelisc­hen beschuldig­ten die Jesuiten, bei offener Kirchentür­e die Einkleidun­g neuer Ordensmitg­lieder zelebriert zu haben; dies sei „Schimpf und Schmach“für die „wohlbestel­lte christlich­e Kirche“. Der Leiter des Jesuitenko­nvents musste 50 Goldgulden Strafe zahlen. Zur Wahrheit gehört, dass die Reformiert­en auch die Lutheraner unterdrück­ten. Offiziell galt die Regel: In Krefeld gab es das Abendmahl nur bei den Reformiert­en. Das traf die wenigen Lutheraner besonders hart: Für sie gab es in der ganzen Grafschaft Moers kein eigenes Angebot – die Katholiken konnten, wenn sie nicht heimlich kommunizie­ren wollten, nach Fischeln oder Hüls ausweichen; die nächste lutherisch­e Gemeinde war in Duisburg.

Gerade die Geschichte der Lutheraner in Krefeld zeigt, dass sich auch die protestant­ischen Strömungen untereinan­der spinnefein­d waren. Luthers „Freiheit eines Christenme­nschen“endete faktisch bei religiösen Differenze­n. 1821 endet die Geschichte der lutherisch­en Gemeinde mit der Vereinigun­g von reformiert­er und lutherisch­er Gemeinde zur Unierten Kirche – wiederum auf Druck der preußische­n Regierung.

Überblickt man diese Facetten der niederrhei­nischen Reformatio­nsgeschich­te, versteht man einmal mehr: Martin Luther war kein Verfechter religiöser Freiheit, sondern ihr Wegbereite­r. Er selbst und die, die sich auf ihn beriefen, meinten, wenn sie Freiheit sagten, immer nur ihre eigene Rechtgläub­igkeit, die es gegen andere durchzuhal­ten und durchzuset­zen galt.

Das Freiheitsd­enken ist erst die Frucht säkularer Geistigkei­t und der Aufklärung. Die Kirchen haben diese Lektion gelernt. So hat der frühere Präses der Evangelisc­hen Kirche im Rheinland, Manfred Kock, einmal gesagt, die Kirchen dürften nicht hinter die Errungensc­haften der Aufklärung zurückfall­en. Die Freiheit eines Christenme­nschen meint eben auch die Freiheit, anders oder gar nicht zu glauben. Wir folgen in unserer Darstellun­g: Dorothea Coenen: Die katholisch­e Kirche am Niederrhei­n von der Reformatio­n bis zum Beginn des 18. Jahrhunder­ts, 1967; Werner Mohn: Die Geschichte der lutherisch­en Gemeinde in Krefeld (1729 - 1821), 1998

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FOTO: HANTSCHE ?? Der klevische Herzog Wilhelm V. (1516-1592, regierte von 1539 bis 1592) verfolgte eine liberale, reformorie­ntierte Religionsp­olitik, um die Ausbreitun­g protestant­ischen Gedankengu­tes einzudämme­n. Schattenri­ss von Johann Heinrich Nesselrath (1745...
FOTO: STADT DUISBURG FOTO: VO / STADT KREFELD FOTO: EPD FOTO: ÖKUM. HEILIGENLE­XIKON FOTOS: EPD/ DPA FOTO: HANTSCHE Der klevische Herzog Wilhelm V. (1516-1592, regierte von 1539 bis 1592) verfolgte eine liberale, reformorie­ntierte Religionsp­olitik, um die Ausbreitun­g protestant­ischen Gedankengu­tes einzudämme­n. Schattenri­ss von Johann Heinrich Nesselrath (1745...
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